Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
lotrecht errichtet worden. Warte mal, das hier tut’s auch.«
Sie standen vor einem Glockenturm. Blondel schaute auf eine niedrige kleine Tür, die Guy nicht einmal aufgefallen war; sie gehörte nicht zu jenen Türen, die einem gleich ins Auge springen. Über dem Sturz waren Buchstaben in den Stein gemeißelt.
noli intrare , stand dort. ad usum canonicorum reser-vata .
»Das ist Latein und heißt ungefähr ›Zutritt nur für Mitarbeiter‹«, erklärte Blondel. »Das dürfte hier eigentlich ganz gut klappen. Das Pferd müssen wir leider zurücklassen, macht aber nichts.«
Er klopfte dreimal gegen die Tür und drückte schließlich dagegen. Sie öffnete sich.
»Also?«
»Es hat mich erwischt«, erklärte Pursuivant.
»Das sehe ich. Und was noch?«
Unterdessen war der Assistenzarzt im Lagerraum 99
auf eine Leiter gestiegen und sah nun die Etiketten durch, die auf den Rücken von schuhkartonähnlichen Kisten klebten. »Wir haben hier nur noch eine Sechsunddreißiger E!« rief er. »Reicht das?«
»Muß reichen«, sagte der Arzt. »Das heißt nur, daß er hin und wieder Bronchitis bekommt, aber was soll’s?«
Pursuivant schnellte auf dem OP-Tisch hoch und protestierte: »Moment mal, Doktor!«
Der Arzt drückte ihn wieder herunter und sagte:
»Haben Sie noch nichts von den Kürzungen ge-hört?
Seien Sie froh, daß wir überhaupt noch eine Sechsunddreißiger E haben, denn in letzter Zeit sind Lungen sehr gefragt.«
»Ja, aber …«
»Jetzt stellen Sie sich nicht wie ein altes Weib an.
Wenn Sie Ihren nächsten dreißigjährigen Dienst antreten, müßten wir auch wieder ein paar Zweiundvierziger haben. Bis dahin muß diese hier reichen.«
Mountjoy, der die ganze Zeit, nervös an seinem Siegelring nestelnd, danebengestanden hatte, wurde allmählich ungeduldig. »Er hat dich also erschlagen, und was war dann?«
»Dann bin ich hingefallen«, antwortete Pursuivant.
»Hören Sie, Chef, im Vertrag steht eindeutig drin, daß sämtliche Schäden behoben werden, und ich …«
»Halt’s Maul. Du bist hingefallen und dann?«
»Aber, Chef …«
»Hör mal, Freundchen«, zischte der Hofgeistliche.
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»Ich sollte längst bei einem wichtigen Treffen sein. Also erzähl weiter.«
In Wirklichkeit war Mountjoy bereits bei diesem Treffen – drei Minuten zu früh sogar –, aber es gab keinen Grund, dies Pursuivant gegenüber zu erwähnen. Er flackerte wütend mit den Augen.
»Ich bin hingefallen. Dann gab es einen Knall, und der Hut von dem Kerl fiel herunter.«
»Was ist?«
»Er hat einen Hut getragen, und der fiel herunter«, erklärte Pursuivant. »Fragen Sie mich bitte nicht, warum.«
»Ich verstehe. Und was ist als nächstes passiert?«
»Dann bin ich gestorben.«
»Aha. Und das ist wirklich alles, was du gesehen hast?«
»Na ja, mein ganzes Leben ist noch einmal im Zeitraffer vor mir abgelaufen, aber ich nehme nicht an, daß Sie das sonderlich interessiert.«
»Nein, wahrhaftig nicht. Was war mit diesem anderen Mann?«
Pursuivant runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Ein merkwürdiger Typ war das. Etwa meine Größe, dunkles Haar. Er trug so etwas wie einen Mantel aus Schafsleder und hatte kein Schwert bei sich. Wenn Sie mich fragen, schien er keinen blassen Schimmer davon zu haben, was da eigentlich vor sich ging.«
»Also hätten wir schon zwei von deiner Sorte«, bemerkte Mountjoy in abfälligem Ton. Dann steckte 101
er das Notizbuch ein und wandte sich an den Arzt.
»Wie lange wird es ungefähr dauern, bis der Kerl hier wieder auf den Beinen und einsatzfähig ist, Doktor?«
»Mal sehen: Hals teilweise abgetrennt, mehrfache Lungen-, Magen- und Schulterverletzungen, komplizierter Bruch des linken Beins. Ich werde ihn auch noch eine ganze Weile zur Beobachtung hierbehalten müssen.
Sagen wir mal etwa zwanzig Minuten.«
»So ein Mist!« zischte Mountjoy verärgert. »Ist Ihnen eigentlich klar, unter welchem Personalmangel wir leiden, Doktor?«
»Das ist nicht mein Problem«, antwortete der Arzt gelassen. »Also gut, Schwester, machen Sie ihn zu.«
Die OP-Schwester klappte das Visier herunter und zündete den Schweißbrenner an.
»Blondel, darf ich dich mal was fragen?« erkundigte sich Guy vorsichtig.
Das Gewölbe war feucht, und es stank erbärmlich.
Die Decke war zu niedrig, und das Licht der Fac-keln in den Wandhaltern spendete nicht genügend Helligkeit.
Etliche Male war Guy in etwas hineingetreten, und er war heilfroh, daß er nicht wußte, worum es sich dabei
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