Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
in den Unterleib und sprang mit gezücktem Schwert auf den Tisch, auf dem der Amtsstab lag.
»Ojemine …«, murmelte Guy vor sich hin.
Wenn er die notwendige Zeit gehabt hätte, um zu analysieren, wie sehr es ihm widerstrebte, in diese Angelegenheit verwickelt zu werden, dann hätte er sich wahrscheinlich selbst gesagt, daß es sich hier um einen entscheidenden Augenblick in der Entwicklung der englischen parlamentarischen Demo-kratie handelte.
Wenn die Situation durch ihn aus den Fugen geraten sollte, wäre er dafür mitverantwortlich, daß das Land erneut in ein finsteres Mittelalter mit königli-109
cher Alleinherrschaft und feudaler Unterdrückung zurückgeworfen werden würde. Doch die Zeit dräng-te.
Zögernd stand er auf, zog den Revolver und sagte verlegen in die Runde: »Entschuldigen Sie, meine Herren.«
Sofort drehten sich der Lordprotektor, das sogenannte Lange Parlament und alle anwesenden Offiziellen und Soldaten zu ihm um und blickten ihn an.
In einem kurzen Augenblick totaler Wahrnehmung erkannte Guy, daß er dreckige Fingernägel hatte, sich in seiner linken Socke ein Loch befand, er wahrscheinlich bald sterben würde, seine Jacke zu groß war und er sich dringend die Haare kämmen mußte.
Dann sagte er:
»Ähm …«
Blondel, der mittlerweile vom Tisch gesprungen war, steckte das Schwert in die Scheide, schnappte sich den Amtsstab und verdrosch damit zwei Hellebardiere.
Dann schlug er dem Zeremonienmeister des Unterhauses gegen die Knie, prügelte den Abgeordneten von Kings Langley bewußtlos, verpaßte dem Saaldiener einen heftigen Schlag auf den Musikanten-knochen und fiel plötzlich vornüber. Der Wächter, der ihn mit einer gebundenen Ausgabe von Henry de Bractons De legibus et consuetudinibus Angliae auf recht unsportliche Weise von hinten zu Fall gebracht hatte, holte zu einem zweiten Schlag aus …
»Keine Bewegung!« brüllte Guy.
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Von allen absurden Situationen, in denen er sich in letzter Zeit befunden hatte, kam ihm diese hier als die komischste vor. Da war er nun, Guy Goodlet, Oberleutnant der Luftwaffe, sechsundzwanzig, bis zum Ausbruch des Krieges ein ehrbarer Bankangestellter, stand auf dem Fußboden des Unterhauses und zielte mit dem geladenen Revolver auf Oliver Cromwell. Obwohl seinem Tun etwas furchtbar Lä-
cherliches anhaftete, mußte doch eingeräumt werden, daß er tatsächlich damit die gewünschte Wirkung erzielte. Plötzlich schien niemand mehr sonderlich viel Interesse an anderen Dingen zu haben. Das gesamte Unterhaus erstarrte wie zu einer Gruppe von Statuen – die allerdings in dieser Anordnung nur von einem Sammler mit einem besorgniserregenden Hang zur Exzentrik hätte zusammengestellt werden können.
Was schließlich passierte, war folgendes: Blondel reagierte als erster und sprang auf. Mit der Breitseite seines Schwerts versetzte er einem Hellebardier, der unmittelbar neben ihm stand – nicht der Wächter, der ihn mit Bractons Buch kurzfristig außer Gefecht gesetzt hatte –, einen gewaltigen Hieb gegen den Kopf.
Guy drückte, eher aufgrund einer nervösen Zuckung als aus Vorsatz, auf den Abzug. Es gab einen lauten Knall (im Unterhaus herrscht eine ganz hervorragende Akustik), und alle schrien wild durcheinander.
Merkwürdigerweise war der einzige Gedanke, der Guy durch den Kopf schoß: Au, Scheiße, jetzt habe ich Oliver Cromwell erschossen. Das wird mir Mi-111
ster Ashton nie verzeihen. Mr. Ashton war Guys Ge-schichtslehrer gewesen und als solcher ein großer Fürsprecher von Oliver Cromwell und der republika-nischen Bewegung des siebzehnten Jahrhunderts.
Er hatte sogar Guy einmal eine Ausgabe der ge-sammelten Werke von John Lilburne geliehen, die Guy immer schon mal hatte lesen wollen.
Das war, was Guy betraf, bezüglich des aktiven Eingreifens in das Kampfgeschehen schon alles, und der Wächter, der sich während der vergangenen fünf Minuten an ihn herangepirscht hatte, hätte keinerlei Probleme gehabt, ihn zu ergreifen und zu entwaff-nen, wenn er nicht kurz zuvor mit dem von Blondel geführten Großen Amtsstab von England einen Schlag auf den Hinterkopf erhalten hätte.
»Komm schon!« schrie ihm Blondel ins Ohr.
»Hier entlang!«
Gleich darauf schloß sich hinter ihnen die Tür mit der Aufschrift Hir trete nur in, swer hir arbeitet, und drei Wächter versuchten vergebens, sie mit ihren Hellebarden aufzustemmen. Unterdessen hob Cromwell seinen Hut vom Boden auf und klopfte den Staub von ihm ab.
Er hatte ein Loch. Schade. Der Hut
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