Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
meistens um diese Uhrzeit wieder zu Hause. Ich meine, wenn 188
Sie bereit sind, noch etwas länger zu warten, können Sie gerne bleiben.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gerne«, antwortete Guy. »Wie bin ich eigentlich hierhergekommen?«
»Das weiß ich auch nicht. Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, das von Ihnen selbst zu erfahren.«
»Ach so.« Guy rührte mit dem Löffel Zucker und Milch um, dann führte er die Tasse an den Mund, ohne allerdings so weit zu gehen, wirklich etwas davon zu trinken. »Ich bin hingefallen.«
»Im Ernst, Mister Goodlet? Wie aufregend.«
»In einem Tunnel«, fuhr Guy fort. »Ich bin vor Stimmen davongelaufen, die mich unentwegt über meine Einkommensteuererklärung ausgefragt haben.
Dann muß ich über irgend etwas gestolpert sein und bin hingefallen. Als nächstes erinnere ich mich daran, daß ich hier bei Ihnen gelandet bin. Irgendwas scheint mich gepackt zu haben und mich dann …«
»Jetzt verstehe ich«, unterbrach ihn Isoud. »In dem Fall muß das Fax Sie hierhergebracht haben.
Welch merkwürdiger Zufall, finden Sie nicht?«
»Ähm, sicher«, antworte Guy. Er blickte über den Rand der Teetasse hinweg und lächelte verlegen.
La Beale Isoud schürzte die Lippen, als ob sie versuchte, zu einem Entschluß zu gelangen. Dann erwiderte sie sein Lächeln und fragte: »Was halten Sie davon, wenn wir uns ein paar Familienfotos ansehen?«
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Durch Alkohol wurde Iachimo immer sentimental.
Normalerweise war das nichts Schlimmes; denn wie Giovanni längst begriffen hatte, besaß sein Bruder das Gemüt eines Buchhalters. Folglich war alles unterstüt-zenswert, was dazu beitrug, daß Iachimo einmal seinen lange unterdrückten Gefühlen freien Lauf ließ – zumindest in Maßen, solange er nicht zu singen begann.
»Ich meine, wir hätten Blondel nicht einfach so zurücklassen dürfen«, sinnierte Iachimo. »Ein feiner Kerl war das. Hat einem jeden Gefallen getan. Schö-
ne Stimme. Und großzügig war er.«
»Und leichtgläubig«, ergänzte Giovanni. »Sehr leichtgläubig sogar.«
»Der leichtgläubigste Typ, den man sich vorstellen kann«, stimmte Iachimo ihm zu. »Man hätte ihm alles andrehen können. Buchstäblich alles.« Er seufzte.
»Und jetzt ist es zu spät. Armer Blondel.« Er griff nach dem Glas und trank es aus.
»Was soll’s? Wir müssen an die Zukunft denken«, sagte Giovanni mit fester Stimme. »Ich bin mir sicher, daß er das von uns so gewollt hätte.«
Iachimo blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen und leicht schwankendem Oberkörper an.
»Meinst du wirklich?«
»Ganz bestimmt«, bekräftigte Giovanni. Dann blickte er seinen Bruder kühl an und fuhr mit sachli-chem Ton fort: »Blondel war nämlich ein Künstler und …«
»Kannst du das noch mal wiederholen?« unterbrach ihn Iachimo.
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»Blondel war ein Künstler, und was wollen Künstler wirklich? Sie wollen …«
»Fünfundzwanzig Prozent garantierte Rendite«, mischte sich Marco ein. Er war der Trottel von den dreien, und die beiden anderen hatten ihm ein paar Standardfloskeln beibringen müssen, von denen fünfundzwanzig Prozent garantierte Rendite zu den längsten zählte.
»Nein«, widersprach Giovanni, »denn genau das unterscheidet uns von Künstlern. Künstler interessiert so etwas nicht die Bohne.« Dann fiel ihm An-drew Lloyd Webber ein, und er fügte hinzu: »Jedenfalls die meisten nicht. Was sie wirklich interessiert, ist die Nachwelt, die Meinung zukünftiger Generationen, ihr Platz in der Halle des Ruhms.«
»Erzähl weiter«, forderte Iachimo ihn auf.
»So sind sie jedenfalls«, fuhr Giovanni fort. »Und Blondel war ein Künstler vom Kopf bis zu den Zehen.
Als Geschäftsmann eine absolute Niete, aber kaum gab man ihm eine Laute und ein großes Publikum, konnte ihm niemand mehr das Wasser reichen.«
»Völlig richtig«, stimmte ihm Iachimo zu. »Ein echtes Genie war er.«
»Du sagst es, Iachimo, ein echtes Genie war er.
Und deshalb ist es unsere Pflicht, sein Material weiterhin genauso zu vermarkten, wie wir es zu seinen Lebzeiten getan haben … und sogar noch mehr als früher«, fügte er hinzu, als ihm Blondels fünfprozen-tiger Anteil einfiel. »Bei Genies ist es nämlich so, 191
daß sie erst nach ihrem Tod richtig berühmt werden.«
»Ehrlich?«
»Darauf kannst du Gift nehmen.« Giovanni rieb sich unwillkürlich die Hände. »Es ist nur so, daß man nach dem Tod eines solchen Genies sicher sein kann, daß nichts Neues mehr kommen wird. Wenn man an diesem Punkt
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