Wenn du mich brauchst
verbringen wir Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, bei unseren Großeltern in Israel. Den Versöhnungstag, Jom Kippu r, feiern wir dann immer mit all unseren israelischen Verwandten in Ramat Aviv im großen Haus meiner Großeltern. Unser Großvater ist der Rabbi einer großen Gemeinde dort und meine Großmutter, die insgesamt vierundzwanzig Enkelkinder hat, freut sich immer sehr, wenn David, Jonathan und ich – ihre einzigen Enkel aus Amerika – endlich wieder im Heiligen Land sind.
»Bleibt, bleibt, bleibt«, sagte sie bei all unseren Besuchen sehnsüchtig. Manchmal stritt sie sich mit unseren Eltern, weil sie uns immer wieder so lange entbehren musste.
»Ima, du hast einundzwanzig Enkel, die dauernd um dich sind«, sagte unsere Mutter dann. »Uns gefällt unser Leben in Amerika. Und Moshe hat seine Arbeit dort, vergiss das nicht.«
»Er kann auch hier arbeiten. Musiziert wird überall«, schimpfte meine Großmutter dann auf Hebräisch. »Ihr seid Juden, ihr gehört hierher!«
Dieses Jahr würden wir Jonathans wegen nicht fliegen können.
»Wie sollen wir das nur eurer Bubbe beibringen?«, überlegte meine Mutter. Wir waren im Krankenhaus bei Jonathan. Arik war ebenfalls zu Besuch.
»Ich habe Obi-Wan Kenobi, Darth Vader, Chewbacca, Anakin Skywalker, Ewok Paploo, Yoda und …«
Arik überlegte und wühlte prüfend in dem Beutel voller Star-Wars-Figuren, die er zum Spielen mitgebracht hatte.
»Hast du auch R2-D2 und C3PO?«, erkundigte sich Jonathan, der im Schneidersitz in seinem Bett saß und darauf wartete, dass die Infusionslösung, die in seinem Arm steckte, endlich durchgelaufen war. Dann würde er aufstehen und spielen gehen können, zumindest für eine Weile.
»Klar«, antwortete Arik achselzuckend. Er hatte eben immer alles.
»Und Prinzessin Leia?«
»Nee, die ist doch öde«, erklärte Arik abfällig. »Dafür habe ich einen Klonkrieger als Spardose. Der ist cool. Aber den habe ich nicht mitgebracht. Der steht zu Hause auf meinem Schreibtisch.«
Jonathan griff in seinen Nachttisch. »Das hat mir mein Cousin Chajm geschickt. Aus Israel.« Er zeigte stolz seinen Star-Wars-Turbo-Tank vor, den er wie seinen Augapfel hütete.
Ich musste lächeln. Chajm war von all meinen Cousins mein Lieblingscousin. Er spielte Geige und Cello wie ich, aber er war dennoch das schwarze Schaf unter seinen Geschwistern. Seine Mutter ist nur ein Jahr älter als meine Mutter und oft rief sie bei uns an, um über Chajm ihr Herz auszuschütten.
»Er ist widerspenstig, Delia. Er will nicht beten. Er will nicht die Thora studieren. Er trägt seine Kippa h nicht mehr. – Und stell dir vor, er will nicht zu seinem Militärdienst gehen …«
In Israel musste jeder Junge und jedes Mädchen nach der Schule zum Militär.
»Puh, wenn du mich fragst, er sieht aus wie Franz Kafka«, hatte Sharoni einmal gesagt, als ich ihr sein Bild bei Facebook zeigte. »Tragisch. Und irgendwie lebensuntüchtig. Was für Augen, was für Wimpern. Und dann dieser ernste Blick … – David sieht viel besser aus, Han.«
Aber das stimmte nicht.
Ganz sicher nicht.
Im Chat hatte ich Chajm einmal gefragt, wie er es anstellen wollte, um seinen Militärdienst herumzukommen.
»Ich könnte mich zum Beispiel als chassidischer Jude ausgeben«, hatte Chajm zurückgeschrieben. »Aber da käme ich vom Regen in die Traufe. Religion ist einfach absolut nicht mein Ding.«
Dann hatte er geschrieben, er könne ja versuchen, sich als Schwuler auszugeben.
»… die wollen sie manchmal auch nicht. Aber sicher ist dieser Tipp leider nicht – siehe Alon.«
Alon war ein anderer Cousin von mir. Er war homosexuell, das wusste die ganze Familie, aber er hatte dennoch seine drei Jahre Militärdienst geleistet.
»Bleibt nur eins«, schrieb Chajm zum Schluss.
»Was?«, hatte ich zurückgeschrieben.
»Abhauen«, las ich ein paar Sekunden später. Aber als ich darauf antworten wollte, sah ich, dass Chajm offline gegangen war.
Ich hatte Chajm vor zwei Jahren zum letzten Mal gesehen. Damals war ich fünfzehn gewesen. Und er siebzehn.
»Schade, dass ihr schon wieder abreist«, hatte er am Tag nach Jom Kippu r gesagt. »Ich wünschte, ich könnte mit euch kommen. Ich habe den Laden hier gründlich satt.«
Ich lächelte ihn an. Shar sagt immer, dass ich bei Jungen zu schüchtern und zurückhaltend bin, aber mit meinen Cousins war es anders. Vielleicht, weil sie zur Familie gehörten. Vielleicht, weil ich mich bei ihnen so geben kann, wie ich bin.
Chajm und
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