Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Meinung.«
10
A ls Joshua mit dem Wagen von der Hauptstraße in einen holprigen Kiesweg einbog, war die Sonne schließlich untergegangen. Die Färbung des Himmels – jedenfalls des Teils, den ich durch die Äste der hohen Kiefern sehen konnte – reichte von einem dunklen Marineblau im Osten bis zu einem blassen Rosaviolett im Westen.
Auf einmal war ich froh um die dunkler werdenden Schatten um uns her. Sie halfen mir sehr dabei, mein wachsendes Unbehagen zu verbergen. Ich hatte das Gefühl, kurz vor einer Prüfung zu stehen. Nicht dass ich Angst davor hatte, die Mayhews an sich zu sehen. Noch nicht einmal die hexenhafte Großmutter bereitete mir wirklich Sorgen.
Doch Joshua würde mich zweifellos beobachten und meine Reaktion auf alles beurteilen, was ich sah. Außerdem wusste ich, dass er im Beisein seiner Familie nicht mit mir würde kommunizieren können. Keine Seitenblicke, kein Flüstern, keine Briefchen. Er würde sehr sorgsam mit meiner Gegenwart umgehen müssen, als sei ich überhaupt nicht anwesend.
Letztlich würde ich also die nächsten paar Stunden in engster Familienrunde verbringen, allerdings im Grunde allein.
Bevor ich Zeit hatte, mich so richtig selbst zu bemitleiden, bog das Auto um eine Ecke, und ein gewaltiges Haus kam in Sicht. Ich bin mir nicht sicher, was ich erwartet hatte. Vielleicht eine bescheidene Oklahoma’sche Ranch oder eine dieser neuen Backstein-Scheußlichkeiten, die im Laufe der Zeit überall in der Gegend emporschossen. Welche Vorstellung ich auch immer gehegt haben und welche Sorgen mich bis eben auch geplagt haben mochten, sie alle verflüchtigten sich angesichts des wunderschönen alten Hauses, das sich vor uns erhob.
Das Haus war mit grünen Schindeln verkleidet und hatte Veranden mit weißem Geländer, die Erdgeschoss und ersten Stock vollständig umgaben. In jedem Giebel und jeder freien Holzfläche befanden sich Fenster: gewaltige Erkerfenster, die von Vorhangbahnen gerahmt wurden; winzige runde Fenster, die nur einen quälerischen Bruchteil der Aussicht versprachen; Buntglasfenster, die vor Farbe explodierten. Aus jedem Fenster drang ein warmer Schein, der einen reizenden Kontrast zu der Dunkelheit bildete, die sich jetzt über das Haus legte. Selbst in der angenehmen violetten Dämmerung nahm ich die Form des Gartens wahr, durch den Joshua jetzt fuhr – Gruppen von Rosensträuchern, Glyzinienreben und Hartriegelsträucher bildeten ein prächtiges Chaos um das Haus und die Pappeln, die es umgaben.
Das hier war wie ein Zuhause aus einem Märchen.
Ich gab mir gar nicht die Mühe, den Mund zuzumachen, während Joshua den Wagen hinter dem Haus abstellte. Als er mir die Hand reichte, griff ich danach, sowohl um Halt zu finden, als auch um seine Haut zu spüren. Normalerweise hätte ich mich voll und ganz auf die Berührung unserer Hände konzentriert. Doch meine Aufmerksamkeit galt etwas anderem.
Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass die Rückseite des Mayhew-Hauses sogar noch wunderbarer als der Eingang war. Doch beim Anblick des Rasens, der sich vor mir erstreckte, stand mir dennoch der Mund offen.
Die Kiefern- und Zederndickichte, so allgegenwärtig im südöstlichen Oklahoma, waren zurückgestutzt worden, sodass sie eine Art Wall um den Garten der Mayhews bildeten. Im Garten hinter dem Haus erhoben sich vereinzelte riesige Pyramidenpappeln und Ahornbäume auf dem Rasen, mit dichtem Laubdach. Durch das Blätterwerk erhaschte ich lediglich den einen oder anderen Blick auf den Nachthimmel.
Durch den Garten und um jeden dieser Bäume wand sich ein steinerner Gehweg. Es war aber ganz und gar kein durchschnittlicher Gartenweg. Die Steine, die im Dunkeln verschiedene Blau- und Grautöne hatten, bildeten verzweigte verschlungene, beinahe labyrinthische Pfade auf dem gesamten Rasen. Manche Pfade schlängelten sich durch den Garten und gingen dann wieder ineinander über, während andere in Stufen mündeten, die auf Terrassen mit Eisengeländern führten. An manchen Stellen wurden Pfade zu überdachten Brücken mit einem Baldachin aus schweren Glyzinienranken. Unter den erhobenen Brückenabschnitten quoll ein dichtes Meer aus Efeu und blühenden Pflanzen am Boden hervor.
Am anderen Ende des Gartens stand eine hölzerne Laube, deren Wände von einem Ring aus hohen Zypressen eingeschlossen waren. Die ganze Szenerie wurde von oben mithilfe gewaltiger weißer Laternen erhellt, die an robusten, zwischen jedem der Bäume gespannten elektrischen Kabeln hingen. Das
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