Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
aber wieder ohne weiteren Kommentar seinem Jahrbuch. Nachdem er den Band näher zu mir geschoben hatte, beugte er sich beim Blättern ein Stück herüber. Es war ganz klar, dass ich gemeinsam mit ihm suchen sollte. Ich lachte leise in mich hinein. Offensichtlich würde mich keine mit dem Tod zusammenhängende Unfähigkeit davor bewahren, diese Jahrbücher mit ihm durchzugehen.
Wir saßen da und blätterten ein Buch nach dem anderen durch, ohne dass es etwas genützt hätte. Es war beinahe zwei Uhr vierzig, bloß eine Viertelstunde vor Schulschluss. Als er auf seine Armbanduhr sah, war ihm eine Emotion ganz klar ins Gesicht geschrieben: Enttäuschung über das offensichtliche Scheitern seines genialen Plans. Er packte eines der wenigen noch übrigen Bücher, ging weniger sorgsam damit um als mit den anderen, und schlug achtlos die erste Seite auf.
Da geschah es.
Die erste Seite war genauso unverfänglich wie diejenigen der anderen Jahrbücher. Sie zeigte das Bild einer Comicfigur mit einem Schutzhelm (ein Bergarbeiter, anscheinend das Schulmaskottchen) und die Daten 1998 bis 1999. Nichts Ungewöhnliches.
Die zweite Seite war jedoch ganz anders. Diese zweite Seite zeigte ein großes Farbfoto eines Mädchens. Die Bildunterschrift lautete:
Zum Andenken an Amelia Elizabeth Ashley
30. April 1981 – 30. April 1999
Mir stockte der Atem. Dann rang ich krampfhaft nach Luft.
Energisch stand ich auf. Der Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, rutschte mit einem lauten Quietschen über den Fliesenboden, bevor er gegen die Wand der Bibliothek knallte.
Ich drehte den Kopf in Richtung des Geräusches. Mit offenem Mund starrte ich den Stuhl an. Er schien völlig gewöhnlich – ein roter Plastiksitz auf dünnen Metallbeinen. Bloß ein einfacher alter Stuhl. Und das erste Objekt in der Welt der Lebenden, abgesehen von Joshua, das ich seit meinem Tod hatte bewegen können.
Der Gedanke an meinen Tod ließ mich wieder zu dem Foto in dem Jahrbuch blicken. Auf das Mädchen darin und den Namen darunter.
Der Stuhl würde warten müssen.
Dieses Bild jagte mir eine Heidenangst ein. Am liebsten hätte ich mich von ihm abgewandt. Doch ich war wie versteinert.
Das Mädchen auf dem Bild starrte empor, ein winziges Lächeln auf den Lippen. Das Lächeln hob die Mundwinkel nur ein bisschen. Es war freundlich, aber argwöhnisch, als habe das Mädchen etwas Lustiges gehört, sei sich aber nicht sicher, ob man darüber lachen dürfe. Seine Augen – von einem strahlenden Waldgrün, das zu dem Kleid passte – glitzerten belustigt. Die gewellten braunen Haare fielen über die Schultern und umrahmten das schmale ovale Gesicht. Die leichte Röte konnte die winzigen Sommersprossen nicht ganz verdecken, die seine Wangen und den Nasenrücken sprenkelten.
Es sah zaghaft und süß aus, aber auch kraftvoll. Und sehr lebendig.
Ein Tropfen fiel von meinem Kinn auf die Seite und verursachte einen dunklen runden kleinen Fleck am Hals des Mädchens. Ich wischte mir über die Wange, da ich instinktiv wusste, dass es sich bei dem Tröpfchen um eine Träne handelte – meine Träne.
» Das da auf dem Bild bin ich, nicht wahr?«
Ich konnte Joshua bei meinen Worten noch nicht einmal ansehen, konnte den Blick nicht von dem Bild abwenden. Ich flüsterte, als könnte ein lautes Geräusch vielleicht den Bann brechen, unter dem wir standen. Zur Antwort erntete ich nichts als Schweigen. Dann …
» Hab dir doch gesagt, dass du wunderschön bist.«
Ich drehte mich in Richtung des weichen Klangs seiner Stimme. Eigentlich bewegte sich nur mein Kopf, da mein Körper fest an dem Schreibtisch verankert zu sein schien. Erst jetzt merkte ich, dass ich die Tischkante mit beiden Händen umklammert hielt, so fest, dass die Fingerknöchel über der Holzmaserung weiß hervorstachen. Unter meinen Fingerspitzen spürte ich plötzlich die glatte Oberfläche des Holzes. Diese jähe körperliche Empfindung überraschte mich im Grunde nicht im Geringsten. Es schockierte mich eher, dass das Holz unter meinem festen Griff noch nicht zersplittert war.
Und ich war nicht die Einzige, die schockiert war. Joshua starrte mich an, und auf seinem Gesicht spiegelten sich Glaube, Unglaube sowie eine Vielzahl anderer Emotionen wider. Doch wie grundverschieden seine sich abwechselnden Mienen auch sein mochten, jede einzelne verriet mir ein und dasselbe.
Er wusste es. Jenseits jeglichen Zweifels, jenseits eines jeden Wunsches, jenseits aller Hoffnung. Er wusste, dass ich Amelia Elizabeth
Weitere Kostenlose Bücher