Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
betraf –, bis ich mich erstaunlicherweise … leichter fühlte.
Zu dieser Leichtigkeit gesellte sich eine absolut seltsame, völlig unerklärliche Woge der Erleichterung.
Ich weiß nicht, wie es möglich war, doch Joshua schien diese Veränderung in mir zu spüren. Diesmal brach er das Schweigen.
» Also, Amelia Elizabeth Ashley«, sagte er leise. Behutsam. » Willst du deine Familie wiedersehen … heute?«
Meine geflüsterte Antwort erschreckte mich, vor allem, weil sie der Wahrheit entsprach.
» Ja, ich will.«
15
Joshua ging davon aus, dass wir mindestens zwanzig Minuten brauchen würden, um von der Schule zu der ersten Adresse zu fahren, die er auf einen Notizzettel geschrieben hatte. Joshua zog ein winziges Telefon hervor. (Ich hatte Handys gesehen, als ich noch am Leben gewesen war, da war ich mir sicher, aber die passten alle nicht in die Handfläche wie dieses.) Von diesem praktisch unsichtbaren Gerät aus rief er seine Mutter an, um ihr Bescheid zu geben, dass er später nach Hause käme. Nachdem Joshua das erledigt hatte, verfiel er beim Fahren wieder in Schweigen, wobei er mir ab und an einen besorgten Blick zuwarf. Er sah mir bestimmt an, dass ich zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war, um ein Gespräch zu führen.
Allerdings waren die Dinge in meinem Kopf gar keine richtigen Gedanken. Es waren erinnerte Bilder und Geräusche, Begleiterscheinungen der nebelhaften, lange begrabenen Erinnerungen an meine Familie. Menschen, die so gut wie aus meiner Gedankenwelt verschwunden gewesen waren, bis vor einer Stunde. Menschen, die ich in nur wenigen Minuten sehen würde, zum ersten Mal seit über zehn Jahren.
Als Erstes, und äußerst beunruhigend, sah ich das Gesicht meines Vaters. Ein seltsamer Nebel umwölkte den Großteil der Erinnerung und verbarg die Örtlichkeit sowie die anderen Anwesenden. Aber da, deutlich und nicht zu verwechseln in der Mitte des Bildes, war mein Vater. Um seine grünen Augen bildeten sich Fältchen, während er sich mit einer Hand durch das schüttere blonde Haar fuhr. Dann, ganz verschwommen, ging das Bild in das einer Frau über. Meine Mutter. Sie saß in einem abgenutzten Sessel, vielleicht in unserem Wohnzimmer, und sah zu meinem Vater auf. Nein, nicht zu meinem Vater. Zu dem kleinen, bernsteinfarbenen Drink in seiner Hand. Dad trank gern an Weihnachten, und meine Mutter billigte es nicht.
Schon bald verschwammen diese erinnerten Bilder mit der Landschaft, die vor den Autoscheiben vorüberflog. Das hatte zur Folge, dass mir schwindelig wurde und schließlich übel. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn man bedachte, dass Geister sich nicht übergeben konnten. Ich beugte mich ein wenig vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und rieb mir die Schläfen mit den Fingerspitzen.
» Amelia? Alles in Ordnung?«
Ohne den Kopf aus den Händen zu nehmen, spähte ich durch die Finger hindurch zu Joshua. Während er versuchte, auf die Straße zu achten, warf er mir so viele verstohlene, besorgte Seitenblicke zu, wie er konnte, ohne in einen Graben zu fahren.
Mit einem Seufzen lehnte ich mich in dem Sitz zurück.
» Nein, es ist nicht alles in Ordnung«, antwortete ich mit einem matten Lächeln. » Ich … erinnere mich ständig an Dinge. Eigentlich an Menschen. Meine Familie. Also habe ich natürlich große Angst.«
» Ja, ich auch irgendwie.«
Ich war verblüfft. Am Nachmittag war Joshua völlig zuversichtlich gewesen – zuversichtlich, dass wir, indem wir meinen Namen und meine Familie ausfindig gemacht hatten, die richtige Wahl getroffen hatten. Jetzt schien diese Zuversicht ins Wanken geraten zu sein.
» Warum solltest du denn Angst haben, Joshua?«
» Na ja, ich bin wohl vor allem nervös«, sagte er. » Um deinetwillen.«
Ich nickte, leise lachend. » Wärst du sauer, wenn ich sagen würde, dass ich froh bin, das zu hören?«
Joshua lachte ebenfalls. » Überhaupt nicht. Irgendwie hängen wir da gemeinsam drin, stimmt’s?«
» Ich schätze mal«, sagte ich mit einem zaghaften Lächeln.
» Also«, fuhr Joshua fort, » möchtest du dich unterhalten, damit wir auf andere Gedanken kommen? Wir können trotzdem über den ganzen ernsten Kram reden, wenn du willst.«
Ich dachte über seinen Vorschlag nach. Tatsächlich wäre es schön, mich von meinen Erinnerungen ablenken zu lassen. Selbst wenn wir über die Erinnerungen selbst reden mussten. Wenigstens wäre ich dann nicht allein mit ihnen in meinem eigenen Kopf.
» Ja«, sagte ich. » Das klingt nach
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