Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
seine Augen sah ich Anzeichen menschlicher Emotionen. Unter seiner Wut verborgen lagen Trostlosigkeit und eine tiefe, große Einsamkeit.
Gedankenverloren ließ ich die Fingerspitzen über das seltsame Moos kreisen. So viele Einzelheiten an Elis Geschichte waren wichtig. So viele Dinge warfen ein Licht auf das, was ich war, und welche Wahlmöglichkeiten ich besaß.
Doch ein anderer Aspekt seiner Geschichte stimmte mich traurig – der Teil, der rein gar nichts mit mir zu tun hatte. Denn so sehr ich ihn vielleicht auch nicht leiden konnte, konnte ich doch ein wichtiges Thema seiner Erzählung nicht ignorieren: Trotz Elis Besessenheit von dieser Welt und ihren dunklen Pflichten wollte er doch nicht allein sein.
Beim Anblick der Seelenqualen in seinem Gesicht überkam mich erneut Mitleid mit ihm. Ich empfand den eigenartigen, unwiderstehlichen Drang, ihm zu helfen und ihn aus seiner Stimmung herauszuholen. Also stellte ich ihm die einzige ablenkende Frage, die mir in den Sinn kam.
» Du hast angedeutet, dass du weitergemacht hast, nachdem Melissa endgültig verschwunden war. Was hast du also als Nächstes getan?«
Sein Blick schoss zu mir hoch, und eine Spur seines alten Grinsens umzuckte seine Mundwinkel.
» Tja, ich habe mir eine andere hübsche Gehilfin gesucht.«
» Mich, stimmt’s?«
Eli nickte langsam.
» Was hast du also getan? Mich gefunden, nachdem ich gestorben war, und beschlossen, dass du dir von mir helfen lassen wolltest?«
» Nein, Amelia.« Sein Grinsen wurde breiter und wirkte plötzlich fremd und wild. » Ich habe dich ausgewählt, bevor du gestorben bist.«
21
M eine Sicht verengte sich auf einen winzigen schwarzen Punkt und erweiterte sich dann wieder unangenehm.
» Du warst da, als ich gestorben bin?«
Auf einmal setzte Eli sich in Bewegung und stürzte von dem Ast aus auf mich zu. Seine Augen glitzerten bedrohlich und waren wieder von dieser Inbrunst erfüllt. Er gab einen schwindelerregenden Wortschwall von sich.
» Das war ich, Amelia. Ich war da, als du gestorben bist, aber ich habe dich nicht aufgeweckt wie Melissa. Ich habe dich noch nicht einmal in die Dunkelheit mitgenommen, wie ich es mit all den anderen Seelen tue. Begreifst du denn nicht, was das bedeutet? Begreifst du nicht, was ich für dich getan habe? Ich habe dich eine Zeit lang entkommen lassen. Ich habe dir deine Freiheit gewährt. Und du stehst deshalb in meiner Schuld.«
Eli wollte meine Hand packen, doch ich zog sie blitzschnell aus seiner Reichweite. Ich konnte nicht denken, konnte nicht atmen. Dennoch brachte ich die Worte irgendwie über die Lippen.
» Was meinst du damit, du warst › da‹? Wie … wie lange warst du da?«
» Genau wie bei Melissa war ich da, noch bevor du gestürzt bist«, sagte er mit einem zärtlichen Lächeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. » Ich habe gesehen, wie du auf dem Wasser aufgeschlagen bist und das Bewusstsein verloren hast. Ich habe gesehen, wie du die Augen aufgemacht hast, und habe gesehen, wie du gegen die Strömung angekämpft hast. Und später habe ich gehört, wie dein Herz aufgehört hat zu schlagen. Doch nach dem letzten Schlag bin ich fort. Ich konnte nicht zulassen, dass du mich siehst. Ich musste mich an einem anderen Ort materialisieren, damit dein Tod Bedeutung haben würde.«
» Bedeutung? Welche Bedeutung?« Entsetzt starrte ich ihn an.
» Offensichtlich war bei Melissa etwas schiefgegangen, sonst hätte ich sie noch. Ich musste mich dir gegenüber anders verhalten, um dich zu behalten. Wenn ich dich auf der Stelle aufgeweckt hätte, wie ich es mit Melissa tat, dann wäre dir vielleicht entgangen, wie gnädig es von mir ist, dass ich dich meine Gehilfin sein lasse. Du hättest dich an dein Leben erinnert, es vielleicht sogar vermisst. Also musstest du den Nebel erleben, um es wahrhaft zu schätzen zu wissen, wenn ich dich da herausholte.«
Das Bild von Joshuas Gesicht schoss mir wieder durch den Sinn.
» Aber du hast mich nicht herausgeholt«, flüsterte ich.
Eli lächelte breit. Auf einmal war seine Miene lebhaft. » Nein, habe ich nicht. Es war gar nicht nötig. Du hast es selbst getan.«
Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
» Ich war letzte Woche auf der High Bridge und habe auf eine neue Seele gewartet«, erklärte Eli, » als ich dich im Fluss unter mir sah. Als sich ein Wagen näherte, hast du wild mit den Armen gefuchtelt und den Fahrer abgelenkt, sodass ich ihn erschrecken und ins Wasser schicken konnte.«
Beinahe musste
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