Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
und an übertönt von einem vereinzelten Kreischen.
Trotz der Gleichförmigkeit der lachenden Stimmen klangen sie alle so vertraut. Wer waren sie? Wo waren sie?
Ich blinzelte durch den Regen nach oben. Weit über mir konnte ich gerade noch die High Bridge ausmachen und die zahlreichen Gestalten, die an ihrem Rand standen.
Erinnerst du dich nicht an diese Szene, Amelia? Ist dir das nicht alles schrecklich vertraut?
Die sanfte Stimme – eine dunklere Version meiner eigenen – flüsterte in meinem Kopf. Irritiert hustete ich und würgte weiter Wasser hervor. Was ging hier vor sich?
Ich blickte wieder zur Brücke und den Gestalten empor.
» Hilfe!«, flehte ich. Das Wort kam als schwaches Stöhnen hervor, kaum laut genug, um die Brücke zu erreichen.
Beim Klang meiner Stimme löste sich eine Gestalt aus der Menge. Ihr Kopf wandte sich ruckartig von den anderen Gestalten ab, und sie erwiderte meinen Blick. Selbst durch den Regen konnte ich erkennen, dass es sich bei der Gestalt um einen Jungen handelte.
Vielleicht war ich nicht in der Lage, seine Gesichtszüge auszumachen. Doch in dem Moment hätte ich ohne Weiteres seine kantige Kinnpartie, seine völlig gerade Nase und seinen kurzen blonden Bürstenschnitt beschreiben können.
Denn ich kannte den Jungen, der jetzt von der High Bridge auf mich herabstarrte.
Im Grunde hatte ich ihn vor meinem Tod nur kurz gekannt. Bloß mein Abschlussjahr lang, das Schuljahr über, in dem ich meine Mutter praktisch gezwungen hatte, mich auf die Wilburton Highschool gehen zu lassen. Der Junge, der mich jetzt beobachtete, war in meiner Abschlussklasse, nur dass ich keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, meinen Abschluss zu machen.
Ich erinnerte mich an ihn. Ich erinnerte mich an alles, was Doug Davidson betraf.
Doug, der beliebteste Junge der ganzen Schule. Derjenige mit den meisten Freunden, dem schnellsten Auto und den reichsten Eltern. Derjenige, der sich schon in meiner ersten Minute an der Wilburton High mit mir angefreundet hatte. Derjenige, der … der …
Ich hatte Mühe mit der Erinnerung, versuchte sie zu greifen, als sich eine andere Gestalt zu ihm an den Rand der Brücke gesellte und den Arm um Dougs Hals schlang. Als sie sich vorbeugte, sah ich ihr Gesicht.
Es war Serena Taylor.
Serena war seit meiner Kindheit meine beste Freundin gewesen. Das Mädchen, das ich während endloser zu Hause unterrichteter Fußballstunden getroffen hatte, zu denen uns unsere Eltern gezwungen hatten, weil sie wollten, dass wir mit anderen Kindern Umgang hatten. Das Mädchen, das mir beigebracht hatte, wie man Lippenstift auftrug, heimlich einen Schluck aus den Flaschen in der Hausbar meines Dads nahm, und meinen Dad bezirzte, mich auf die öffentliche Highschool gehen zu lassen, kurz nachdem Serena dort eingeschult worden war. Das Mädchen, das so blond und so schön wie Doug war und das, sobald ich es ihm vorgestellt hatte, zahlreiche Methoden ausprobiert hatte, ihn zu verführen, unter anderem auch, indem es ihn gezwungen hatte, bei der Organisation einer Party mitzuhelfen.
Der Party, die sie gemeinsam zu meinem achtzehnten Geburtstag veranstaltet hatten.
An dem Tag, an dem ich gestorben war.
Ich riss wieder den Kopf zu Doug und Serena hoch. Sie beugten sich beide über die Brückenleitplanke, ihre Gesichter jetzt sichtbarer. Selbst aus dieser Entfernung und durch den Regen war ihnen anzusehen, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Ihre beinahe identischen blauen Augen sahen zu dunkel aus, zu irre.
Unerklärlicherweise zitterte ich auf einmal. Als ich zu ihren vertrauten Gesichtern hochstarrte – Gesichtern, die nicht mehr achtzehn Jahre alt aussehen sollten, nicht wahr? –, wurde mir schwindelig.
In dem Moment schrie Serena mir etwas zu. Ihre schrille Stimme zerriss die Nachtluft, klang unartikuliert und völlig außer Kontrolle.
» Amelia! Amelia. Happy, happy birthday, Baby!«
Sie streckte einen Arm nach mir aus und winkte mir, mit einem absurd breiten Lächeln, hektisch zu.
Bevor ich ihr antworten oder ihr zuschreien konnte, sie solle mir helfen, um Himmels willen, ereilte mich eine jähe, unkontrollierbare Rückblende.
Es war im Grunde wie bei den anderen Rückblenden, die ich seit meiner Begegnung mit Joshua erlebt hatte – die visuellen Eindrücke und Geräusche der Vergangenheit, die Erinnerungen, die ich seit meinem Tod vergessen hatte, stürzten in meine Gedanken zurück.
Ohne Vorwarnung stand ich vor meinem Schließfach im hell erleuchteten Korridor der
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