Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
angeschwollen von beinahe drei Wochen Frühlingsgewittern in Oklahoma. Ich hatte das Wasser noch nie so hoch oder derart von der schnellen Strömung aufgewühlt gesehen. Der Fluss schien an den Rändern schaumbedeckt wie das Maul eines tollwütigen Hundes. Der Anblick jagte mir einen heftigen, eiskalten Schauer über den Rücken.
Und doch …
Was, wenn ich einfach … sprang?
Ich beugte mich weiter über die Planke und starrte in das Wasser. Sicher, ich befand mich viele Meter hoch oben, und der Fluss sah gefährlicher aus, als ich ihn je zu Gesicht bekommen hatte. Aber vielleicht könnte ich der Party entkommen, wenn ich mich bloß ein bisschen weiter nach vorn lehnte …
Mit einem Keuchen zog ich mich von der Leitplanke zurück und schüttelte den Kopf vor Angst. Was in aller Welt hatte mir die plötzliche Eingebung verschafft, hatte mich glauben machen, ich könne einfach hinunterspringen und wegschwimmen? Woher war dieser so offensichtlich tödliche Einfall gekommen?
In dem Moment verspürte ich den stärksten Drang, den ich je im Leben verspürt hatte: Ich wollte weg von diesem Ort. Weg von dieser Menge von Fremden und dem eigenartigen Rauch, der – scheinbar ursprungslos – über allen schwebte. Weg von diesem Fluss.
Ich starrte in die Menge zurück, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, den ich kannte. Jemandem, der mich von hier wegbringen konnte.
In dem Moment bemerkte ich ihn wieder. Mr. Rockstar. Hinter etlichen Gesichtern hervor beobachtete er mich, und jetzt hatte er ein unverkennbares Grinsen aufgesetzt. Ich weiß nicht, woher ich es wusste, aber ich wusste es auf der Stelle: er konnte die Angst in meinen Augen sehen. Und er genoss sie.
Bevor ich ihm etwas zurufen konnte, ihm sagen konnte, er solle mich in Ruhe lassen, schob sich ein anderes Gesicht vor das seine. Als Serena mich breit angrinste, wäre ich vor Erleichterung beinahe in Ohnmacht gefallen. Sie schob die Partygäste beiseite und bahnte sich einen Weg, bis sie vor mir stand.
» Serena, Gott sei Dank …«
» Amelia!«, rief sie fröhlich, warf mir die Arme um den Hals und umarmte mich heftig.
Die Bewegung war zu kraftvoll und stieß mich beinahe über die Leitplanke. Ich packte die Kante des gebogenen Metalls und kratzte mit den Fingern verzweifelt über seine glatte Oberfläche.
» Serena, lass mich los!«, schrie ich.
Sofort ließ sie die Arme fallen, und ich konnte mich wieder gegen die Planke stemmen. Doch anstatt sich zu vergewissern, dass ich in Sicherheit war, oder mich gar zu beruhigen, drehte Serena sich zu der wogenden Menge auf der Brücke um.
» Hey, ihr Leute«, sagte sie, wobei sie jedes einzelne Wort nuschelte. Ich hatte sie noch nie derart betrunken gehört. » Habt ihr gewusst, dass heute Amelias achtzehnter Geburtstag ist?«
Daraufhin richtete die gesamte Menschenmenge ihre Aufmerksamkeit auf uns. Es hatte eine verstörende Wirkung, als seien Hunderte Augen gleichzeitig auf mich geheftet. Jetzt konnte ich auch Dougs blaue Augen ausmachen, höchstens sechs Meter entfernt. Mr. Rockstars Augen tauchten ebenfalls wieder auf, kalt glitzernd, in der Nähe von Dougs. Und über allen schwebten immer noch die schwarzen Gestalten, glitten über und um jede einzelne Person.
Auf einmal redeten die Partygäste alle wieder, doch diesmal sagten sie lediglich ein einziges Wort. Dasselbe Wort, wieder und wieder, von hundert unterschiedlichen Stimmen gesprochen.
Meinen Namen.
Serena starrte sie immer noch an und lehnte sich gegen mich. Ihr Gewicht drückte mich weiter über die Leitplanke. Meine Füße berührten tatsächlich nicht mehr den Asphalt, sondern baumelten ein wenig in der Luft.
Die Bewegung hätte Entsetzen in mir auslösen sollen. Doch als Serena zu mir herumwirbelte, war ich wie versteinert von ihren Augen.
Sie waren ziellos, wie die Augen eines jeden, wenn er nur betrunken genug war. Ich hatte ihre Augen schon unter Alkoholeinfluss gesehen, etliche Male. Doch was auch immer Serenas Blick jetzt trübte, war gewiss kein Alkohol. Ihre Augen wirkten zu groß und leer, die Pupillen derart vergrößert, dass sie nur von einem dünnen blauen Kreis umgeben waren.
Serena sah wie besessen aus.
Als sie sich diesmal zu mir beugte, zuckte ich zusammen. Doch meine Angst schreckte Serena nicht ab. Sie kam ganz nahe, drückte mich immer weiter über die Leitplanke, bis ich fast waagerecht über dem Fluss hing. Dann packte Serena mich an den Schultern und flüsterte heiser: » Happy birthday, beste Freundin.«
Mit
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