Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
empfand Mitleid mit seiner unglücklichen Ex-Schwiegertochter, jedoch mit einem Anflug von Verärgerung. Als sie ihn anrief, konnte sie sich einen boshaften, schadenfrohen Unterton nicht ganz verkneifen. »Die Scheidung war ziemlich unerfreulich. Ich möchte ihr nichts Schlechtes nachsagen, sie war wie eine Tochter für mich – aber es freut sie insgeheim, Tim eins auszuwischen.«
»Es war nicht ihre Schuld, sondern meine.«
»Neve, wenn Sie wirklich jemandem die Schuld geben müssen, warum nicht Tim? Er ist derjenige, der den Mund nicht halten konnte. Zumindest, was die Leichen im Keller unserer Familie angeht. Denn das ist der wahre Grund für die Geheimniskrämerei um Berkeley. Vergangene Trauer und bitterer Kummer … Daraus sind die meisten Familiengeheimnisse gemacht, wissen Sie das nicht?«
»Doch«, flüsterte Neve.
»Sie haben uns also eigentlich einen Gefallen erwiesen.«
Joe schenkte Tee ein, reichte ihr eine Tasse. »Sie haben Licht ins Dunkel gebracht, folglich gibt es nichts mehr zu verstecken.«
»Tim befürchtet, dass Franks Tod wieder aufgewärmt werden könnte.«
Bei diesen Worten versteifte Joe sich. Er trank einen Schluck Tee und fühlte sich auf Anhieb besser. Damien hatte gewusst, was dieses Gebräu bewirkte – das besser war als der Whisky, den er nach dem Krieg bevorzugt hatte.
»Nun, die Presse hat vor mehr als einer Woche von der Berkeley-Geschichte Wind bekommen. Zugegeben, seither sind einige Reporter bei mir aufgetaucht. Aber was ist so schlimm daran, wenn sie einen Bericht über Frank O’Casey bringen? Wissen Sie, was Tim in Wahrheit fürchtet?«
»Was denn?«
»Dass niemand Frank erwähnt. Er ist tot, aber totschweigen ist noch schlimmer. Was die Leere unerträglich macht, sind nicht die Fragen, die die Leute stellen, oder die Geschichten, die sie sich erzählen, sondern vielmehr das, worüber sie stillschweigend hinweggehen – das fördert das Vergessen, rückt den Menschen in immer weitere Ferne, bis wir uns am Ende fragen, ob er überhaupt Teil unseres Lebens war.«
»Glauben Sie das wirklich?« Ihre Stimme war so leise, dass er sie kaum hören konnte bei dem Lärm, den die Vögel in der Scheune veranstalteten.
»Davon bin ich fest überzeugt.« Er öffnete die Schreibtischschublade und holte die Meldungen und Berichte heraus, die er unlängst aus dem Providence Journal, dem Boston Globe und der New York Times ausgeschnitten hatte. »Schauen Sie sich die Geschichten über Damien an. Die Tatsache, dass mein Bruder Berkeley war, ist die Sensation des Jahres in der Kunstwelt. Jeder will wissen, wie er mit dem Malen begonnen hat, warum er Vögel liebte, warum er ein Cape trug, einfach alles. Und sie möchten etwas über seine Kriegsjahre erfahren. Angesichts der bevorstehenden Bergung von U-823 ein brandaktuelles Thema.«
»Es tut mir leid, dass diese grauenvollen Erinnerungen wieder hochgespült werden.«
»Ja, sie sind schmerzlich.« Joe breitete die Zeitungsausschnitte auf seinem Schreibtisch aus. Sie zeigten Fotos von Damien in seiner Fliegerjacke, mit seiner Mannschaft neben der B-14 hockend, und Joe auf der Brücke der USS James, der eine Sonnenbrille trug und mit düsterer Miene in die Kamera schaute. »Wir sehen wie richtig harte Kerle aus, oder?«
»Ja.«
»Zwei Naturburschen aus Rhode Island. Einer davon ein begnadeter Künstler.«
»Sie besitzen beide ein einzigartiges Talent. Was Sie mit Ihrer Raubvogel-Auffangstation leisten, ist bewundernswert. Ihr Bruder wäre stolz auf Sie.«
»Ein tröstlicher Gedanke. Bei meiner Arbeit habe ich das Gefühl, ihm nahe zu sein. Ich stelle mir die Bilder vor, die er von den Eulen und Falken gemalt hätte. Und er wäre auch stolz auf Tim, auf das Naturschutzgebiet, das er erhält und Besuchern zugänglich macht.«
»Das hat er von Ihnen geerbt. Die Liebe zur Natur. Frank hatte sie auch.«
Joe nickte. Er versuchte, einen Schluck Tee zu trinken, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Ihm fiel der Gedanke an Frank genauso schwer wie Tim. Stumm deutete er auf die Scheune, und Neve folgte ihm. Er hätte ihr gerne erzählt, was er empfunden hatte, als er aus dem Krieg heimgekehrt und sich die Welt verändert hatte; nicht, dass die Landschaft in Rhode Island anders ausgesehen hätte, die Zugvögel nicht mehr kamen, die Narragansett Bay ausgetrocknet oder die Arcade, die im neugriechischen Stil erbaute, überdachte Einkaufsmeile zwischen der Weybosset und der Westminster Street nach Providence verlegt worden wäre. Nein,
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