Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
damit der Tee abkühlte, und schüttelte lächelnd den Kopf. Chris war eine wunderbare Freundin, aber sie hatte recht: Die Liebe zu den Vögeln ging über ihr Begriffsvermögen. Im Lauf der Jahre hatte sie versucht, Chris die einfachen Freuden der Naturbeobachtungen nahezubringen: Blaureiher, die im seichten Wasser der kleinen Bucht standen, oder Kolibris, die pfeilschnell in die roten Klettertrompeten hinein- und hinausflogen. Sie stellte ihre Teetasse ab und griff nach der Kamera.
»Kein Foto, wenn ich bitten darf!«, rief Chris. »Ich sehe grauenhaft aus.«
»Ich wollte kein Foto von dir machen, sondern dir eins zeigen.« Neve scrollte durch die digitale Galerie der Bilder, die sie am Strand aufgenommen hatte. »Die Eule.«
Die Freundinnen standen da, den Blick auf das kleine Display an der Rückseite der Kamera geheftet, und Chris täuschte höfliches Interesse vor, als Neve zu den Aufnahmen von der Schneeeule gelangte. Plötzlich tauchte ein Foto von Tim O’Casey auf und Chris ergriff Neves Handgelenk.
»Nanu, ist das nicht …?«
»Tim O’Casey – der Park-Ranger.«
»Der Typ, der sich im Krankenhaus so unmöglich benommen hat?«
»Ja.« Neve betrachtete den Schnappschuss. Sie war selbst überrascht gewesen, dass sie ihn fotografiert hatte. Vermutlich dachte er, dass es reiner Zufall gewesen war, aber tatsächlich hatte sie ihn ins Visier genommen, auf sein Gesicht fokussiert und den Auslöser gedrückt – mit voller Absicht.
»Seltsam.« Chris sah genauer hin. »Ich kenne das Gesicht.«
»Woher?«
»Oh, die Sonntagszeitung brachte vor ein paar Wochen einen Bericht. Über seinen Vater – aber mit einem Bild von ihm, dem Ranger. Hast du den Artikel nicht gelesen?«
»Wenn er vor ein paar Wochen erschienen ist, war ich wahrscheinlich total im Stress wegen dieser Gerichtsverhandlung und hatte keinen Nerv, mich mit der Sonntagszeitung zu befassen.« Neve betätigte den Schalter für die Linsenabdeckung und hörte, wie sich die Kamera ausschaltete. »Worum ging es denn? Was ist mit seinem Vater?«
»Er ist so eine Art Einsiedler. Lebt irgendwo in den Wäldern in der Nähe von Kingston. In einer Blockhütte, mit einer riesigen Voliere … Er kümmert sich um verletzte Falken und andere Vögel. Betreibt eine Auffangstation für wildlebende Tiere.«
»Noch ein Naturfreund.« Tim hatte ihr erzählt, dass er in die Fußstapfen seines Vaters getreten sei. Sie dachte an ihre Mutter und daran, was so schlimm daran sein mochte, die Liebe zur Natur geerbt zu haben. »Ging es darum in dem Bericht?«
»Nicht wirklich. Ich kann mich nicht mehr genau an alle Einzelheiten erinnern, aber es hatte mit den Plänen von Cole Landry zu tun, das U-Boot zu bergen.«
»Ich nehme an, Tims Vater ist aus ökologischen Gründen dagegen.« Neve stellte sich den alten Mann vor, der in den Wäldern lebte und sich der verletzten Vögel annahm.
»Den Eindruck hatte ich nicht.« Chris nahm einen Schluck Tee.
»Weshalb dann?«
»In dem Artikel wurde er ›Graugans‹ genannt, und es ging in erster Linie darum, dass er während des Zweiten Weltkriegs in der Navy war. Kommandant oder so, auf dem Zerstörer, der besagtes U-Boot versenkte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich die beiden entfremdet haben – Vater und Sohn, meine ich.«
Während sie Chris zuhörte spürte Neve, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Geistesabwesend schaltete sie die Kamera wieder ein, spulte die Bilder wieder ab. Sie überging die Fotos von der Schneeeule, eines zauberhafter als das andere, und hielt erst bei der Aufnahme von Tim O’Casey an.
Er stand auf halber Strecke zwischen ihr und dem Truck, in seiner Khakiuniform und dicken Jacke, und starrte aufs Meer hinaus. Es war ihr gleich ein wenig seltsam vorgekommen, dass er als Park-Ranger seinen Blick auf den endlos weiten Ozean gerichtet hatte, der immer da war und sich nie wirklich änderte, statt auf den seltenen Vogel mit dem schneeweißen Gefieder.
Was hatte er gesagt? Ich bin in die Fußstapfen meines Vaters getreten …
Das hatte geklungen, als hätte er ein Verbrechen begangen. Was hatte einen Veteranen der Navy, einen alten Seebären bewogen, sich in eine entlegene Blockhütte in den Wäldern zurückzuziehen und Vögel in seine Obhut zu nehmen, die vom Himmel fielen? Sicher war Tim deswegen in seine Fußstapfen getreten und Naturschützer geworden, wachte über die Strände und die Tier- und Pflanzenwelt von Rhode Island. Sie schienen sich in vielem sehr ähnlich zu sein,
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