Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
so lebendig zu fühlen wie in den letzten Tagen, seit der Begegnung mit Neve – das hatte er als seltsam empfunden. Diese Starre war ihm vertraut. Er setzte Kaffee auf, schenkte sich einen Becher ein und nahm ihn mit ans Fenster. Als er hinausblickte, entdeckte er ein Fischerboot, das langsam um die Stelle kreiste, an der sich das Wrack befand. Er kannte den Trawler nicht, vermutlich keiner, der regelmäßig hierherkam; wie es aussah, hatten sich seine Netze in den Aufbauten – dem Periskop, dem Kommandoturm oder den Deckgeschützen – des gesunkenen U-Boots verfangen. Lasen Fischer keine Seekarten? Wieder einer, der seine Ausrüstung verloren hatte, und ein gefundenes Fressen für alle, die es schon immer gewusst hatten: weitere Munition für die U-Boot-Museum-Liga, in einem Kampf, den sie längst gewonnen hatte. Vermutlich war der große Kran schon auf dem Weg nach Secret Harbor.
Warum auch nicht? Wen kümmerte es schon … Wie konnte ein so versierter Schwimmer ertrinken? Er stellte sich vor, wie es war, wenn man in der Falle saß und wusste, wenn es eine Chance gegeben hätte, sich freizuschwimmen, hätte er sie genutzt … Tim umklammerte seinen Kaffeebecher, spürte, wie sich seine Finger erwärmten. Sie waren eisig – nicht nur jetzt, draußen am Strand, sondern auch in seinem Traum … als er den Federkiel umklammert hielt und endlos in den Sand geschrieben hatte. Es war, als könnte sein Körper nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden.
Als hätte er sich im Niemandsland verirrt.
»Mickey, du verpasst den Bus«, rief Neve vom anderen Ende des Flurs; sie hatte es eilig, zur Arbeit zu kommen. Der Katalog musste im Lauf des Vormittags an die Druckerei gehen, und es waren immer noch ein paar Kleinigkeiten zu verbessern. Sie hatte gestern bis in die Nacht am Feinschliff des Textes gearbeitet, hatte die Fotos von Berkeleys Werken ausgelegt und festgestellt, dass einige seiner Bilder von Blaureihern, Schnepfenvögeln und Regenpfeifern aussahen, als wären sie im Salt Marsh Refuge entstanden.
»Ich weiß.« Mickey kam in die Küche. Sie trug Jeans und einen blauen Pullover, ihre Fleecejacke und eine dicke Mütze. Neve wunderte sich, warum ihre Tochter aussah, als wollte sie einen Strandspaziergang machen, statt zur Schule zu fahren.
»Beeil dich.« Neve öffnete die Kühlschranktür, um das Lunchpaket herauszunehmen – Reste des Hühnchens, frische Preiselbeerensoße und Sprossen auf Siebenkornbrot – Mickey mochte es besonders gern.
»Danke.« Mickey verstaute die braune Papiertüte in ihrem leichtgewichtigen Rucksack – nicht in ihrer normalen Schultasche. Sie trödelte, machte keine Anstalten, den Mantel anzuziehen, Neve einen Kuss zu geben und zum Bus zu gehen.
»Was ist los?«, fragte Neve.
»Ich warte auf Shane.«
»Shane? Warum kommt er her? Mickey, sieh zu, dass du den Bus erwischst und sag ihm, du triffst ihn in der Schule!«
Mickey schüttelte den Kopf, kramte im Schrank und zog den Fahrradhelm hervor. »Wir haben einen Plan.«
Neve erstarrte mitten in der Bewegung. Wenn Mickey einen Plan hatte, gab es nichts, was sie davon abbringen konnte. In diesem Moment bog der Schulbus um die Ecke; sie hörte, wie er langsamer wurde, kurz anhielt und ohne Mickey weiterfuhr.
»Mach dir keine Sorgen. Ich habe heute als Erstes zwei Freistunden. Ich verpasse nichts und bin rechtzeitig zum Englischunterricht in der Schule.«
Shane bog mit Karacho in die Auffahrt, ließ sein Fahrrad unsanft zu Boden fallen und rannte die Stufen zur Küche hinauf. Mickey hatte die Tür geöffnet, bevor er klopfen konnte, und obwohl er verschwitzt und atemlos von der Fahrt war, wirkte er entspannt und erleichtert in ihrer Gegenwart. Neve betrachtete die beiden, die keine Handbreit voneinander entfernt standen und beim Anblick des anderen strahlten.
»Tut mir leid, falls ich zu spät bin. Ich musste meine Reifen aufpumpen …«
»Kein Problem.« Mickey lächelte, als hätte er ihr soeben verraten, dass er einen geheimen Garten für sie angelegt hatte.
»Guten Morgen, Mrs. Halloran«, rief er, als er Neve entdeckte.
»Hallo, Shane. Du bist den ganzen Weg von zu Hause mit dem Rad hergefahren – noch vor der Schule?«
»Nur bis ich mein Auto wieder flottgemacht habe. Im Winter läuft es nicht richtig – die Batterie gibt immer wieder ihren Geist auf. Deshalb dachte ich, ich warte mit der Reparatur bis zum Frühjahr. Dann macht der Surfladen wieder auf, wo ich arbeite, und ich
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