Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
umgekommen.«
»Nein, er hat überlebt. Aber er war völlig verändert. Nach seiner Rückkehr aus England nahm er nie wieder einen Pinsel in die Hand. Auch so eine Sache, über die sich mein Vater ausschweigt.«
»Er war ein begnadeter Künstler«, sagte Neve. »Die Experten in meinem Metier, die etwas von Malerei und Malern verstehen, sind der Meinung, dass seine Vogelbilder den Werken von Audubon den Rang streitig machen.«
»Fragen Sie meinen Vater, der kann Ihnen zehnmal mehr erzählen.« Er sah, wie ihre Augen leuchteten, sah ihr Lächeln. Er hätte gerne die Hand ausgestreckt und ihr Gesicht berührt. Sie lächelte oft, das war ihm als Erstes aufgefallen. Sie war bereit, das Glück willkommen zu heißen.
»Was diesen Punkt betrifft, stimme ich Ihrem Vater zu.«
»Das würde ihm gefallen. Er mag Sie.«
»Sie haben mit ihm gesprochen?«
Tim nickte, spürte, wie er sich verkrampfte. Reden war gut und schön, aber er war nicht sicher, ob er seine derzeitige Beziehung zu Joe O’Casey eingehender erörtern wollte. »Er erzählte mir, dass Sie mehrmals bei ihm waren.«
»Ich habe ihm Acrylharz gebracht. Um den gebrochenen Schnabel der Schneeeule zu fixieren. Und, wie ich zugeben muss, um einen Blick auf den Berkeley zu werfen, der über der Werkbank hängt. Er hat mit keinem Wort erwähnt …«
»Dass sich Damien hinter dem Künstlernamen verbirgt? Nein, das hätte er nie getan. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Privatsphäre seines Bruders zu schützen. Ich hätte es Ihnen vermutlich gar nicht verraten dürfen.«
»Von mir erfährt niemand etwas«, versprach Neve. »Aber warum die Geheimniskrämerei? Berkeley ist das Hätschelkind der Nation – seine Bilder finden riesigen Anklang. Und er hat schon viel zu lange Rätsel aufgegeben. Der Staat Rhode Island hat ihn seit jeher für sich in Anspruch genommen, aber ganz sicher waren wir uns nie. Er hat seine Identität nie preisgegeben, so dass niemand wusste, ob er hier geboren wurde, nur herkam, um zu malen – oder ob er sich später hier niederließ. So viele Fragen …« Tim nickte. Er sah, dass sie gerne mehr erfahren hätte. Er hätte ihr einiges erzählen können – zumindest das, was er wusste. Doch trotz der Wut auf seinen Vater, respektierte er dessen Wunsch, Informationen über seinen Bruder unter Verschluss zu halten.
»Sagen Sie mir wenigstens eines – warum trug er das Cape?«
»Vor dem Krieg ging er nach Paris. Er war ein Wunderkind – niemand konnte ihn zurückhalten, obwohl sich selbst seine Mutter Sorgen darüber machte, dass er zu jung war, um alleine im Ausland zu leben. Er fühlte sich dort auf Anhieb heimisch und sein künstlerisches Talent gelangte zur Reife. Er begegnete einer Frau, seiner Muse. Sie saß ihm in seinem Atelier Modell, und er schenkte ihr das Cape, das sie wärmen sollte. Eines Tages war sie verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Das Cape ließ sie zurück.«
»Wie schrecklich für ihn. Hat er sie jemals wiedergesehen?«
Tim zuckte die Achseln.
»Hat er geheiratet? Hatte er Familie?«
»Ich würde Ihnen gerne mehr erzählen, aber für den Rest ist mein Vater zuständig. Das verstehen Sie doch, oder?« Er wusste, dass dieser Teil der Geschichte für den heutigen Abend zu schmerzlich war.
»Ich denke schon«, sagte sie langsam.
»Mein Vater stand seinem Bruder sehr nahe. Manchmal glaube ich, dass er ihn mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt liebte.«
»Aber nicht mehr als Sie.« Neve schüttelte den Kopf. »Sie hätten hören sollen, wie er von Ihnen spricht.«
»Davon weiß ich nichts«, entgegnete Tim. »Ich habe ihn enttäuscht. Aber dass er Frank im gleichen Maß wie Damien liebte – das glaube ich auf Anhieb.«
»Und Sie auch«, entgegnete Neve beharrlich. Als er keine Anstalten machte, einzulenken, lächelte sie. »Unser erster Streit.« Er grinste breit, denn er entnahm ihren Worten, dass es weitere Wortgefechte geben könnte, dass die Zukunft etwas für sie bereithielt. Er wusste nicht genau, was er davon halten sollte, aber bei dem Gedanken lief ihm ein wohliger Schauer über den Rücken.
»Stimmt«, sagte er.
»Ich werde Sie nicht weiter bedrängen, was Berkeley angeht – obwohl ich gerne mehr über ihn erfahren würde.«
»Irgendwann vielleicht, in Ordnung?«, fragte er, und sie nickte.
Er nahm den schwachen Duft ihres Parfums wahr, selbst über den Tisch hinweg, und es raubte ihm fast die Sinne. Er gab der Bedienung ein Zeichen, die Rechnung zu bringen. Er wusste,
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