Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

stelle mir den weißen Fleck vor, und als ich sie wieder öffne, sieht Kent so aus, als würden ihm die Eingeweide rausgerissen. »Ist sie … ich meine, ist Juliet …?«
    Er schüttelt einmal kurz den Kopf. »Es war nichts mehr zu machen«, sagt er so leise, dass ich es nie verstehen könnte, wenn ich nicht wüsste, was er sagt.
    Â»Ich hab sie gesehen …« Ich beginne zu sprechen und stelle fest, dass es nicht geht. »Ich hätte sie festhalten können. Sie stand so dicht neben mir.«
    Â»Es war ein Unfall.« Kent sieht zu Boden. Ich bin mir nicht sicher, ob er es wirklich glaubt.
    Nein, war es nicht, will ich sagen. Mir fällt ihr eigenartiges halbes Lächeln ein, als sie gesagt hat: Nächstes Mal vielleicht, aber wahrscheinlich nicht , und schließe die Augen, um die Erinnerung zu verscheuchen.
    Â»Was ist mit Ally? Ist mit ihr alles in Ordnung?«
    Â»Ally geht’s gut. Sie hat noch nicht mal einen Kratzer.« Kents Stimme wird fester, aber sie klingt flehend und mir wird klar, dass erversucht, mich vom Weitersprechen abzuhalten – er will nicht, dass ich frage, was ich fragen will.
    Â»Elody?« Meine Stimme ist nur ein Flüstern.
    Kent sieht weg. An seinem Kiefer spannt sich ein Muskel an.
    Â»Sie saß vorne«, sagt er schließlich, als würde ihm jedes einzelne Wort Schmerzen verursachen, und ich muss daran denken, wie Elody sich vorbeugt und jammert: Warum darf Sam immer vorne sitzen? »Der Beifahrersitz war am stärksten vom Aufprall betroffen.«
    Ich überlege, ob sie das so auch meinen Eltern im Krankenhaus erklärt hätten – Zusammenstoß, Beifahrersitz, Aufprall. »Ist sie …?« Ich kann das Wort nicht aussprechen.
    Er sieht mich an, als würde er gleich losweinen. Er sieht älter aus als je zuvor, seine Augen sind dunkel und ausdrucksvoll und traurig. »Es tut mir so leid, Sam«, sagt er leise.
    Â»Was willst du mir sagen?« Ich balle die Fäuste so fest, dass sich die Nägel in meine Haut bohren. »Willst du sagen, dass … dass sie …?« Ich breche ab, immer noch unfähig, es auszusprechen. Wenn ich es ausspreche, wird es wahr.
    Kent sieht aus, als wäre jedes Wort, das er sagt, etwas Scharfes, das er hervorwürgen muss. »Es war … es ging ganz schnell. Schmerzlos.«
    Â»Schmerzlos?«, wiederhole ich mit zitternder Stimme. »Schmerzlos? Das weißt du doch gar nicht. Das kannst du doch gar nicht wissen.« Ich habe eine Faust in der Kehle. »Haben sie das gesagt? Haben sie gesagt, es war schmerzlos ? Als wäre es so friedlich? Als wäre es so okay ?«
    Kent greift über den Tisch hinweg nach meiner Hand. »Sam …«
    Â»Nein.« Ich schiebe den Stuhl zurück und stehe vom Tisch auf. Mein ganzer Körper vibriert vor Wut. »Nein. Sag mir nicht, dass es okay ist. Sag mir nicht, es hätte ihr nicht wehgetan. Du weißt nicht …du hast keine Ahnung … niemand hat auch nur die geringste Ahnung, wie weh es tut. Es tut so weh …«
    Ich weiß gar nicht genau, ob ich über Elody spreche oder über mich. Kent steht auf und nimmt mich in die Arme. Und plötzlich habe ich schluchzend den Kopf an seiner Schulter vergraben. Er drückt mich fest an sich und macht kleine Geräusche in meinem Haar, und bevor ich mich völlig gehenlasse und der Schwärze, die mich überkommt, nachgebe, habe ich einen total seltsamen und bescheuerten Gedanken: dass mein Kopf perfekt an Kents Schulter passt.
    Dann wird die Erinnerung an Elody und Juliet einfach zu viel. Ein schwerer Schleier senkt sich über meinen Verstand und ich weine. Es ist die zweite Nacht in Folge, in der ich in Kents Gegenwart zusammenbreche, aber das weiß er natürlich nicht. Ich sollte eigentlich dankbar sein, dass er sich nicht daran erinnert, wie wir erst letzte Nacht in einem dunklen Zimmer nebeneinandersaßen, so dass sich unsere Knie beinahe berührten, aber stattdessen fühle ich mich deswegen nur noch einsamer. Ich verliere mich im Dunst, im Nebel, und irgendwann, als ich langsam wieder zu mir komme, wird mir bewusst, dass Kent mich buchstäblich aufrecht hält. Meine Füße berühren kaum den Boden.
    Er hat den Mund in meinen Haaren vergraben und ich spüre seinen Atem an meinem Ohr. Es ist wie ein Stromschlag, der durch mich hindurchzuckt, und ich fühle mich furchtbar deswegen