Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Ich drehe das Wasser so weit und so heià auf, wie es geht, und stelle mich darunter. Es ist eine dieser Regenwaldduschen, in denen das Wasser in einem langen, schweren Strahl von oben auf einen herunterströmt. Als es auf den Marmorfliesen unter meinen FüÃen auftrifft, steigen groÃe Dampfwolken auf. Ich bleibe so lange unter der Dusche, bis meine Haut ganz lila wird.
Ich ziehe Kents Fleecejacke an, die ganz weich ist und nach Waschmittel riecht und aus irgendeinem Grund auch nach frisch gemähtem Gras. Dann reiÃe ich die Etiketten von den Boxershorts und steige hinein. Sie sind mir natürlich zu groÃ, aber das saubere, knisternde Gefühl auf meiner Haut gefällt mir. Die einzigen anderen Boxershorts, die ich bisher gesehen habe, sind Robs, die normalerweise zusammengeknüllt bei ihm auf dem FuÃboden oder unter dem Bett liegen und Flecken haben, von denen ich lieber nicht wissen möchte, woher sie stammen. Zum Schluss ziehe ich die Jogginghose an, die auf meinen FüÃen Falten schlägt. Kent hat mir auch Socken gegeben, so dicke flauschige. Ich raffe alle meine Kleider zusammen und werfe sie auf einen Haufen direkt vor der Badezimmertür.
Als ich in die Küche zurückkomme, steht Kent noch genauso da wie vorhin. Irgendetwas blitzt in seinen Augen auf, als ich hereinkomme, aber ich bin mir nicht sicher, was es ist.
»Deine Haare sind nass«, sagt er sanft, aber er sagt es, als würde er eigentlich etwas anderes sagen.
Ich senke den Blick. »Ich hab jetzt doch geduscht.«
Einige Herzschläge lang breitet sich Schweigen zwischen uns aus. Dann sagt er: »Du bist müde. Ich bringe dich nach Hause.«
»Nein.« Ich sage es entschiedener, als ich will, und Kent sieht erschrocken aus.
»Nein ⦠das heiÃt, ich kann nicht. Ich will jetzt nicht nach Hause.«
»Deine Eltern â¦Â« Kent bricht ab.
»Bitte.« Ich weià nicht, was schlimmer wäre: wenn meine Eltern bereits Bescheid wissen und dasitzen und auf mich warten, darauf warten, mich in die Mangel zu nehmen, mich auszufragen, und über Krankenhäuser am nächsten Morgen reden und über Therapeuten, die mir helfen können, damit klarzukommen â oder wenn sie noch nicht Bescheid wissen und ich in ein dunkles Haus komme.
»Wir haben ein Gästezimmer«, sagt Kent. Seine Haare sind inzwischen zu kleinen Strähnen und Wellen getrocknet.
»Kein Gästezimmer.« Ich schüttele heftig den Kopf. »Ich will in einem echten Zimmer schlafen. In einem Zimmer, in dem jemand lebt.«
Kent starrt mich einen Augenblick an, dann sagt er: »Komm mit.« Im Vorbeigehen fasst er nach meiner Hand und ich gebe sie ihm. Wir gehen die Treppe hoch und den Flur entlang bis zu dem Zimmer mit den ganzen Aufklebern. Ich hätte wissen müssen, dass das seins ist. Er fummelt an der Tür herum â »Sie klemmt«, erklärt er â und stöÃt sie schlieÃlich auf. Ich atme tief ein. Es riecht genauso wie gestern Nacht, als ich mit Rob hier war, aber alles ist anders â die Dunkelheit wirkt irgendwie weicher.
»Einen Augenblick.« Kent drückt meine Hand und löst sich von mir. Ich höre das Rascheln der Vorhänge und schnappe nach Luft:Plötzlich kommen drei riesige Fenster, die sich über die ganze Wand erstrecken, zum Vorschein. Er hat kein Licht angemacht, aber es ist, als hätte er es getan. Der Mond leuchtet riesengroà und strahlt durch den herabrieselnden Schnee, wodurch er nur noch heller wird. Der ganze Raum ist in wunderschönes, silbernes Licht getaucht.
»Das ist unglaublich«, sage ich. Ich atme aus; ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe.
Kent lächelt kurz. Sein Gesicht ist von Mondlicht eingefasst. »Nachts ist es groÃartig. Wenn die Sonne aufgeht, allerdings nicht mehr.« Er macht sich daran, die Vorhänge wieder zuzuziehen.
»Lass auf«, rufe ich und füge dann hinzu: »Bitte.« Ich bin plötzlich schüchtern.
Kents Zimmer ist riesig und riecht nach derselben unglaublichen Mischung aus Downy-Weichspüler und frisch gemähtem Gras. Es ist der frischeste Geruch der Welt, der Geruch nach offenen Fenstern und knisternden Laken. Letzte Nacht konnte ich nichts weiter erkennen als das Bett. Jetzt sehe ich, dass das Zimmer komplett von Bücherregalen gesäumt ist. In der Ecke steht ein Schreibtisch mit einem Computer und weiteren
Weitere Kostenlose Bücher