Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
und noch verwirrter als sowieso schon. Ich löse mich ein Stückchen von ihm. Er lässt seine Arme jedoch nicht sinken, sondern stützt mich weiterhin, worüber ich froh bin. Er ist stark und warm.
»Dir ist ja immer noch eiskalt«, sagt er. Nur eine Millisekunde lang legt er seinen Handrücken an meine Wange, aber als er sie wegnimmt, kann ich den Umriss seiner Hand spüren, als hätte sie mich verbrüht. »Deine Kleider sind völlig durchnässt.«
»Unterwäsche«, platze ich heraus.
Er runzelt die Stirn. »Was?«
»Meine ⦠äh, Unterwäsche. Ich meine, meine Hose, meine Fleecejacke und meine Unterwäsche ⦠das ist alles voller Schnee. Na ja, inzwischen vor allem Schmelzwasser. Es ist echt kalt.« Ich bin zu erschöpft, um verlegen zu sein. Kent beiÃt sich nur auf die Lippe und nickt.
»Bleib hier«, sagt er. »Und trink aus.« Er macht eine Kopfbewegung zur heiÃen Schokolade hin.
Er führt mich zurück zum Stuhl und verschwindet. Ich zittere immer noch, aber wenigstens kann ich den Becher halten, ohne alles auf dem Tisch zu verschütten. Ich denke an nichts weiter als die Bewegung des Bechers an meine Lippen und den Kakaogeschmack, das Ticken einer Katzenuhr, deren Schwanz als Pendel hin- und herschwingt, und das vorbeischwebende Weià vor dem Fenster. Wenige Augenblicke später ist Kent mit einer riesigen Fleecejacke, einer ausgeblichenen Jogginghose und zusammengefalteten gestreiften Boxershorts zurück.
»Das sind meine«, sagt er und wird knallrot. »Natürlich nicht meine. Ich hatte sie noch nicht an oder so. Meine Mutter hat sie für mich gekauft â¦Â« Er unterbricht sich und schluckt. »Ich meine, ich hab sie selbst gekauft, am Dienstag, glaube ich, das Etikett ist noch dran und alles.«
»Kent?«, falle ich ihm ins Wort.
Er atmet geräuschvoll ein. »Ja?«
»Tut mir wirklich leid, aber ⦠würde es dir was ausmachen, still zu sein?« Ich zeige auf meinen Kopf. »Mein Hirn ist ganz durcheinander.«
»Entschuldige.« Er atmet aus. »Ich weià nicht, was ich tun soll. Ich wünschte ⦠ich wünschte, ich könnte mehr tun.«
»Danke«, sage ich. Ich weiÃ, er gibt sich Mühe, und bringe ein schwaches Lächeln zu Stande.
Er legt die Kleider auf den Tisch, zusammen mit einem groÃen, flauschigen weichen Handtuch. »Ich wusste nicht ⦠Ich dachte, wenn dir immer noch kalt ist, könntest du vielleicht duschen.« Beim Wort duschen wird er rot.
Ich schüttele den Kopf. »Ich will einfach nur schlafen.« Das Schlafen habe ich ganz vergessen und ich spüre, wie es mich aufheitert, als ich es sage: Alles, was ich tun muss, ist schlafen.
Sobald ich einschlafe, ist der Albtraum zu Ende.
Gleichzeitig steigt ein nagendes Angstgefühl in mir auf. Was, wenn der Tag diesmal nicht zurückgespult wird? Was, wenn es das jetzt war? Ich muss an Elody denken und spüre, wie mir die heiÃe Schokolade wieder die Kehle hinaufsteigt.
Kent muss meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er kniet sich neben mich, so dass unsere Augen auf einer Höhe sind. »Kann ich irgendetwas tun? Kann ich dir irgendwas holen?«
Ich schüttele den Kopf und versuche nicht wieder zu weinen. »Schon okay. Es ist nur ⦠der Schock.« Ich schlucke heftig. »Ich will nur ⦠ich will zurückspulen, weiÃt du?«
Er nickt einmal und legt seine Hand auf meine. Ich ziehe sie nicht weg. »Wenn ich es wiedergutmachen könnte, würde ich es tun«, sagt er.
Auf eine Art ist das ein blöder, naheliegender Satz, aber wie er es sagt, so aufrichtig und einfach, als wäre es die reine Wahrheit, treibt mir die Tränen in die Augen. Ich nehme die Kleider und das Handtuch und gehe raus auf den Flur ins Bad, in das wir auf der Suche nach Juliet eingebrochen sind. Ich schlieÃe die Tür hinter mir. Das Fenster steht immer noch offen und Schneeflocken wirbeln von drauÃen herein. Ichmache es zu. Davon geht es mir gleich besser, als hätte ich bereits damit begonnen, alles auszulöschen, was heute Nacht passiert ist. Mit Elody wird alles in Ordnung kommen.
SchlieÃlich war ich diejenige, die eigentlich vorne sitzen sollte.
Ich hänge das Handtuch auf, das Juliet auf dem Waschbecken liegen gelassen hat, und ziehe mich zitternd aus. SchlieÃlich kann ich einer Dusche doch nicht widerstehen.
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