Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
in Lindsays Auto ein Sesambagel auf mich wartet, dass wir immer »No more drama« hören, wenn wir auf den Parkplatz fahren. Dass Mom sonntags immer Spaghetti mit Hackfleischbällchen macht und Dad einmal im Monat die Küche übernimmt und sein »Spezialgulasch« kocht, das nur aus Würstchen und gebackenen Bohnen und ganz viel Ketchup und Zuckersirup besteht, und ich würde nie zugeben, dass mir das schmeckt, aber in Wirklichkeit ist es eins meiner Lieblingsgerichte. Die kleinen Details, die das besondere Muster meines Lebens ergeben, wie die kleinen Fehler in einem handgewebten Teppich, kleine Zwischenräume und Knoten und Unebenheiten, die man nie nachbilden kann.
So viele Dinge sind plötzlich schön, wenn man nur genau hinsieht.
»Kein Frühstück, nein, aber danke.« Ich gehe zu Mom rüber und nehme sie in den Arm. Sie schreit überrascht auf. Es ist wahrscheinlich ein paar Jahre her, seit wir uns das letzte Mal umarmt haben, abgesehen von den obligatorischen Zwei-Sekunden-Umarmungen an Geburtstagen. »Ich hab dich lieb.«
Als ich sie loslasse, starrt sie mich an, als hätte ich gerade verkündet, ich würde die Schule schmeiÃen, um Schlangenmensch im Zirkus zu werden.
»Hey«, sagt Dad, der gerade eine Pfanne ins Spülbecken stellt und sich dann die Hände am Küchentuch abwischt. »Und was ist mit deinem Alten hier?«
Ich verdrehe die Augen. Es ist total peinlich, wenn Dad versucht, »Teenie-Sprache« zu sprechen, wie er es nennt, aber ich lasse es ihm durchgehen. Heute kann mir nichts die Laune vermiesen.
»Tschüs, Dad.« Ich lasse mich von ihm ganz fest in den Arm nehmen, niemand kann das so wie er. Ich bin vom Kopf bis zu den Zehenspitzen mit Liebe angefüllt, ein perlendes Gefühl, als hätte jemand mein Inneres geschüttelt wie eine Colaflasche. Alles â das Geschirr in der Spüle, Izzys Bagel, Moms Lächeln â sieht ganz klar aus, als wäre esaus Glas oder als sähe ich es zum ersten Mal. Ich bin wie geblendet und habe erneut das Verlangen, herumzugehen und alles anzufassen, sicherzugehen, dass es echt ist. Wenn ich Zeit hätte, würde ich das sogar wirklich tun. Ich würde die Hände um die halb aufgegessene Grapefruit auf der Arbeitsplatte legen und daran riechen. Ich würde Izzy mit den Fingern durchs Haar fahren.
Aber ich habe keine Zeit. In der Schule ist Valentinstag und Lindsay wartet drauÃen und ich habe etwas zu erledigen. Heute werde ich zwei Leben retten: Juliet Sykesâ und meins.
ES WERDE LICHT
»Tut, tuut!«, ruft Lindsay aus dem Fenster, als ich den vereisten Weg entlanglaufe. Tief atme ich die kalte Luft ein und freue mich über das Brennen in meinen Lungen, freue mich sogar über den beiÃenden Gestank von Lindsays Zigarette und die Abgase, die die Luft verpesten. »Geile Schnitte! Wie viel?«
»Wenn du fragen musst, kannst duâs dir nicht leisten«, sage ich, als ich auf den Beifahrersitz rutsche.
Sie grinst und reicht mir meinen Kaffee, bevor ich die Hand danach ausstrecken kann. »Fröhlichen Valentinstag.«
»Fröhlichen Valentinstag«, sage ich und wir stoÃen mit den Styroporbechern an.
Auch sie sehe ich viel klarer als bisher. Lindsay mit ihrem Engelsgesicht und den strubbeligen, dunkelblonden Haaren und dem abgesplitterten schwarzen Nagellack und ihrer ramponierten Dooney-&-Bourke-Ledertasche, deren Boden immer mit einer Schicht Tabak und halb ausgepackten Trident-Kaugummis bedeckt ist. Lindsay, die Langeweile verabscheut und deshalb ständig in Bewegung, ständig unterwegs ist. Lindsay, die uns einmal drauÃen im Arboretum, als sie betrunken war, die Arme um die Schultern gelegt und gesagt hat: »Wir gegen den Rest der Welt, Mädels«, und es genau so meinte. Lindsay, gemein und witzig und wild und loyal und meine Freundin.
Unvermittelt beuge ich mich vor und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ey, du bist wohl heute auf dem Lesbentrip, was?« Lindsay hebt eine Schulter und wischt sich damit mein Lipgloss von der Wange. »Oder übst du nur für heute Abend?«
»Vielleicht beides«, sage ich und sie lacht laut und ausgelassen.
Ich trinke einen Schluck Kaffee. Er ist glühend heià und bestimmt der beste Kaffee in ganz Ridgeview, auf der ganzen Welt. Es lebe Dunkinâ Donuts !
Lindsay quatscht darüber, wie viele Rosen sie erwartet und ob Marcy Posner wohl wie üblich
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