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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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fähig, das Leben wiederaufzunehmen, sage ich, als Ilana anruft, aber ich schäme mich, ihr zu gestehen, daß ich direkt vor ihrer alten Schule auf der menschenleeren Straße gegen einen Betonsockel gefahren bin. Und ausgerechnet jetzt kündigt mir meine Tochter Besuch an.
    Prabodh hat angerufen, er konnte dich nicht erreichen. Hebst du denn nicht ab, wenn das Telefon läutet, fragt sie.
    Der Anrufbeantworter ist doch an.
    Mit Dads Stimme, sagt sie, das ist für manche Leute gruselig, es ist, wie mit einem Toten reden.
    Das tun wir beide doch ständig, denke ich.
    Manchmal schaffe ich es einfach nicht, mich der Außenwelt zu stellen, verteidige ich mich, das kannst du doch verstehen?

    Doch, sagt sie leise, das versteh ich gut. Ich komme ja übermorgen.
    Was will Prabodh?
    Er möchte zum Grab und tun, was man eben in seiner Religion am Grab eines Menschen tut, dem man nahestand. Er war doch sein bester Freund.
    Wie viele beste Freunde hatte Jerome denn?
    Nicht viele, und noch weniger, auf die er sich verlassen konnte.
    Auf Prabodh hatte er sich verlassen können, und er hatte dessen rebellischen Stiefsohn in einem langwierigen Disziplinarverfahren vertreten und den Prozeß für ihn gewonnen. Sie hatten sich während des Doktoratsstudiums kennengelernt, Prabodh war mit einem Stipendium an die Universität gekommen, ein traditionell denkender Inder aus der Kriegerkaste, stolz, leicht zu kränken, ehrgeizig, zehn Jahre älter als die übrigen Studenten. Mit seiner Intuition für alles, was die meisten als unüberbrückbar fremd abstieß, muß Jerome ihm in den ersten Jahren der Eingewöhnung ein guter Freund gewesen sein.
    Ich lernte Prabodh kennen, als ich Jerome das erstemal nach unserer Begegnung im Flugzeug nach Tel Aviv besuchte. Ich hatte den ganzen Herbst wie in einem Delirium gelebt, die Freiheit eines Landes, das mich überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, war mir zu Kopf gestiegen. Ich fuhr fast täglich nach Manhattan, verbrachte die Tage in Buchhandlungen und Bibliotheken, wanderte an den Rändern von Princeton umher und schrieb überall, an jedem Ort, Gedichte. Ich war außer mir, buchstäblich, wie im Traum, und dennoch bei überklarem Bewußtsein, die unwirkliche Brillanz der Herbstfarben rief unentwegt Bilder in meinem Kopf hervor, beim Gehen, unter jedem Baum, an jedem Flußlauf. In dieser inspirierten
Euphorie gab es keine Grenzen, die mich an den abenteuerlichsten Vorhaben hätten hindern können, auch nicht daran, meinen Besuch bei einem Mann anzukündigen, mit dem ich vier Jahre zuvor in einem Flugzeug nicht mehr als ein paar Sätze gewechselt hatte und von dem ich nicht wußte, wie er lebte und ob er sich an mich erinnerte. Unterwegs, auf einem Autobusrastplatz, unter einem Ahornbaum mit zitternden goldenen Blättern drehte ich mich um mich selber wie ein Kreisel, berauscht von den Farben und von meiner unfaßbaren Freiheit. Es war schon dunkel, als ich in Boston aus dem Greyhoundbus stieg. Kommen Sie, kommen Sie, hatte Jerome am Telefon erfreut gerufen, erzählen Sie mir von Israel! Jetzt stand er in der Schalterhalle, aber er erkannte mich nicht, während ich ihn sofort erspähte, auch ohne das Hemd mit den Wassernixen, er hatte ein frisches, dezent gestreiftes Hemd für seinen unbekannten Gast angezogen. Er hatte zwar keine Erinnerung an mich, aber wie beim erstenmal gab es von Anfang an keine Fremdheit zwischen uns, und es erschien uns selbstverständlich, daß er mich mitsamt meinem Gepäck nach Hause brachte, in sein helles Studio Apartment mit dem großen Balkon und dem Panoramablick über Boston und einem Arbeitszimmer ohne Fenster, das ursprünglich ein geräumiger begehbarer Schrank gewesen war. Eine Arbeitsplatte über zwei Aktenschränken und ein schmales Sofa hatten darin Platz. Hier können Sie es sich gemütlich machen, sagte er.
    Wir schliefen noch in derselben Nacht in seinem Bett. Wenn ich mir heute die Fotos von Jerome als Dreißigjährigem ansehe, bin ich erstaunt, wie gut er aussah mit seinem dunklen Lockenkopf, dem schmalen Oberlippenbärtchen und der tiefen Kerbe im Kinn. Er lächelt verschmitzt und hintergründig in die Kamera, als hätte er ein Geheimnis, seine Augen und die regelmäßigen
kleinen Zähne blitzen in dem Gesicht mit dem leicht olivfarbenen Teint. Ein wenig untersetzt war er schon damals und so jugendlich, daß ich es mir nicht mehr vorstellen kann, diesen jungen Mann geliebt zu haben. Aber Jugend war damals nichts Erstaunliches, sie war die Normalität, die

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