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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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unvereinbare Bestandteile zerfallen, und mit derselben Geschwindigkeit löst seine Welt sich in wertlose,
überflüssige Gegenstände auf, die ich wie Essensreste von der letzten Mahlzeit in Plastiksäcke stopfe, verschleudere, verschenke. Und ich bleibe auf meiner Liebe sitzen wie auf einem Sack voll Lügen.
    In dem Sommer vor fünfzehn Jahren, in dem ich ihn verließ, sagte Jerome: Ich weiß, daß du zugrunde gehst, aber es ist mir egal, ich will nicht mit dir untergehen. Er hatte für sich und seine Geliebte auf Cape Cod ein Cottage gemietet, und sie verbrachten jeden Tag am Horseneck Beach. Es ist eine unleugbare Tatsache, weil es Fotos gibt, vom Strand, von der Veranda, auf der sie Eis essen und sich necken. Aber nach ein paar Jahren verbrachten auch wir wieder unsere Sommerferien am Meer, und ich erinnere mich an das Glück der Aufbrüche am frühen Morgen, an die langen Dämmerungen und ihre trägen Sommergeräusche und die Ferienstimmung in den Küstendörfern und den Strandcafes, die angenehme Müdigkeit und Ruhe nach einem Tag am Strand und daß wir uns liebten, als wäre es immer so gewesen. Von jenem Sommer und jener Frau war nie wieder die Rede, aber sie war da wie ein Schatten, den man für kurze Zeit verdrängen, jedoch nie vergessen und ungeschehen machen konnte. Und dennoch, sogar in Zeiten, in denen wir vieles, auch Unwahrheiten, sagten, nur um einander zu verletzen, versicherte er mir, ohne zu zögern, daß unsere Anfangszeit die beste in seinem ganzen Leben gewesen sei, nichts, was später passiert sei, käme an sie heran, während ich überlegte und nicht mehr sicher war, bis heute nicht sicher bin, was die besten Stunden, Wochen, Monate in meinem Leben waren. Sechsunddreißig Jahre sind seither vergangen, wie kann ich mich auf meine oder auf seine Erinnerung verlassen oder darauf, daß ich mich nicht verändert habe? Es gab so viele Begegnungen seither, so viele Menschen und Erfahrungen,
die mich geprägt haben, und nach einer Weile weiß man nicht mehr, wer man vorher war. Man müßte alles auf einen Blick sehen können, das ganze Spektrum vom heftigen, ans Unerträgliche grenzenden Glück bis zum Schmerz, bei dem man leichtfertig sagt, das überlebe ich nicht. Es gibt Erlebnisse, die immer gegenwärtig sind und die einen Spalt zwischen die Unschuld der ersten Liebe und alles Spätere treiben. Wie kann ich sicher sein, daß ich mir in dieser langen Zeit nicht eine Liebe erdichtet habe, die ganz anders war?
    Bevor Jeromes Bruder nach San Francisco zurückfliegt, will er die Gegend noch einmal besuchen, in der sie aufgewachsen sind. Wenn er von seinen Herzbeschwerden spricht, erkenne ich in seinen Augen sekundenlang die gleiche Todesangst, mit der Jerome mich zum Schluß manchmal ansah. Es ist ein Abschiedsbesuch, und er fürchtet, daß er nicht nur von seiner Kindheit und seinem Bruder, sondern auch von seinem eigenen Leben Abschied nimmt. Weston ist eine vornehme Vorstadt mit großen Grundstücken und weit zurückgebauten Häusern und die getrimmten Rasenstücke laufen ineinander, eine Parklandschaft mit Villen, die hinter Ziersträuchern verborgen liegen, und alten Ulmen. Die Straßen sind wie ausgestorben, Totenstille liegt über dem Viertel, kein Lärm spielender Kinder, keine Menschen, nicht einmal Autos in den Auffahrten und auch in unserem Auto herrscht bedrücktes Schweigen, jeder spinnt seine eigenen Gedanken vor sich hin, die nur manchmal unvermittelt laut ausgesprochen werden.
    War es schon immer so, frage ich.
    Wie, so? fragt Harold zurück.
    So still, so vornehm?
    Nein, erwidert er, als wir Kinder waren, gab es hier viele junge Familien, es war lebendiger, wir radelten auf der Straße und
spielten auf den Rasenstücken vor den Häusern Ball. Ihr wißt ja, daß der Sohn von Mutters bester Freundin vor Jeromes Augen von einem Müllwagen überfahren wurde. Sie waren gleich alt, vier Jahre. Seit damals ist die Gegend viel exklusive geworden, und die Bewohner heute sind älter und reicher. Wenn man sich vorstellt, sagt er mit bitterem Bedauern, wieviel diese Häuser jetzt wert sind.
    Und das ist unser Haus, erklärt er und hält an. Wir stehen vor einem weitläufigen Bungalow mit zwei Edeltannen vor der Einfahrt und streng symmetrisch gestutzten Koniferen zu beiden Seiten der Haustür. Da sind wir aufgewachsen, sagt er nachdenklich.
    Ich kann keine Verbindung finden zwischen Jerome und der symmetrischen Wohlanständigkeit dieses Hauses, zwischen seiner anarchischen Phantasie, seinem ans

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