Wenn du wiederkommst
Anstößige grenzenden Witz und der Sterilität, die das ganze Viertel ausstrahlt. Auch sein unbeugsames Beharren auf sozialer Gerechtigkeit kann nicht hier entstanden sein. Woher kam das Proletarische an ihm, das er so stolz, mitunter angriffslustig zur Schau trug? Wie kam es, daß er angesichts dieser in genau berechnetem Abstand zum Haus und zur Einfahrt gepflanzten Tannen nicht lernte, das innere Chaos in Schach zu halten und die Ordnung zu lieben? Harold, ja, der schon, denke ich, der paßt hierher, ein verwöhntes Vorstadtkind mit seiner unangreifbaren, grausamen Tugendhaftigkeit. Dieser Ort macht mir beide ein wenig fremd.
Im Sommer, von Mai bis September, grasten wir in unserem Ice Cream-Wagen die Gegend ab, sagt Harold zu seiner Frau, wir haßten es, besonders hier herum, wo wir wenig Geschäft machten, näher an Boston gab’s mehr Kinder auf der Straße, aber da waren die Gangs, die uns Streiche spielten.
Wenn Jerome über seine Zeit als Eisverkäufer sprach, klang es wie ein Abenteuer, wie seine Vertreterfahrten in New Hampshire, er habe ein Repertoire an Späßen gehabt und die Kinder seien ihnen zugelaufen, erzählte er.
Hat Jerome es auch gehaßt? frage ich.
Welcher Jugendliche will seine Sommerferien auf diese Art verbringen? fragt Harold gereizt. Jerome mochte es genauso wenig, wir hatten keine schöne Kindheit, der kranke Vater, die depressive Mutter, die Angst, das Haus zu verlieren, und schließlich haben wir es ja auch verloren, und dann auch noch den ganzen Sommer Eis verkaufen, sieben Tage in der Woche, ohne freien Tag.
Aber ihr wart zu zweit, wo Dad doch immer für Unterhaltung sorgte, versucht das Einzelkind Ilana sich die gemeinsamen Fahrten auszumalen.
Auch zwischen den Brüdern gab es Dissonanzen, sagt er kryptisch, als spreche er von irgendwelchen Brüdern, und dann verstummt er so entschieden, daß man seine Kiefer zuklappen hört.
Trotzdem fährt er die stillen Straßen ab, eine nach der anderen, langsam, im Schrittempo und meist schweigend, und fragt sich wohl, ob es das letztemal ist, und auch wir schweigen, um ihn in seinen Erinnerungen nicht zu stören, und manchmal sehe ich im Rückspiegel, wie er heftig zwinkert und sich die Tränen aus den Augen blinkt. Ich versuche zu verstehen, ihn, Jerome, versuche zu verstehen, daß sie Brüder sind und die gleichen Eltern, die gleiche Kindheit hatten. Was habe ich über Jerome gewußt? Nur, was er bereit war, mir zu zeigen. Im Rückspiegel betrachte ich die Stirn und die Augen meines mir fremden Schwagers, den ich immer für eine farblose Version von Jerome gehalten hatte. Sein Bruder, der mich nicht
mag und trotzdem versucht, verbindlich zu bleiben und mich fair zu behandeln. Und der andere, mit dem ich mein ganzes erwachsenes Leben teilte, mit dem ich eine Tochter habe. Ich kann mich nur auf Anekdoten stützen, die nahelegen, daß Jerome, der maßlos geliebte Erstgeborene, dem Temperament nach seiner Mutter ähnlich war und deren Verachtung für die ostjüdische Bodenständigkeit seines Vaters übernahm, während der Jüngere sich an den Vater hielt und seine Eigenarten kultivierte. Seine Mutter hätte dich gehaßt, sagte Jeromes Tante das einzige Mal, als er mich auf Besuch mitnahm. Er konnte mir nie sagen, was sie damit meinte, aber vielleicht wußte er es ganz genau und wollte mich schonen wie so oft. Der Jüngere hatte von Anfang an teilen müssen, und vielleicht waren die Teile nicht ganz gleich gewesen. Wenn Harold von seinem Vater spricht, klingt seine Stimme so, wie Jeromes Verehrung für seine Mutter. Und er haßt alles, was für sie und für Jerome Kultur bedeutet hatte, Literatur, klassische Musik, französische und mediterrane Küche, und Rotwein. Und jetzt bricht der Konflikt auf, die Rivalität und die Bitterkeit des Zweitgeborenen, der sich um seinen Anteil an Liebe betrogen fühlt.
Mit Harold muß ich mich nicht mehr auseinandersetzen, denke ich. Diese Familiengeschichte ist mit Jeromes Tod für mich abgeschlossen. Und Jerome? Er gehört jetzt mir, im Tod kann ich ihn besitzen, wie er es im Leben niemals zugelassen hätte.
Es kommt mir vor, als ginge alles gleichzeitig zu Ende, Jeromes Leben, unser leckes Haus, die Bäckerei, in der wir seit vielen Jahren Bagels und Challah kauften. Jerome blieb stets
im Auto sitzen, während ich einkaufte, weil er im Lauf der Zeit immer wieder vergessen hatte, bestelltes Brot abzuholen und die Rüge der resoluten Besitzerin fürchtete. Die Bäckerei der strengen Malka schloß am
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