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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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Aber im Oktober werde ich nicht mehr da sein. Im Leben unserer Bekannten waren wir eine Episode, die abgeschlossen ist. Und Leslie legt mitten im Gespräch den Hörer auf, er habe jetzt keine Zeit für Diskussionen, er sei mit Wichtigem beschäftigt. Er ist überzeugt, Jerome habe im Jenseits für ihn interveniert und ihm die junge bulgarische Theologiestudentin geschickt, die er vor kurzem kennengelernt hatte, um ihn für den Verlust seines besten Freundes zu entschädigen und über Beths Kälte hinwegzutrösten.
    Meiden dich Jeromes Freunde auch? frage ich meine Tochter.
    Sie sieht mich erstaunt an. Ich habe noch keinen von ihnen angerufen, erwidert sie, was gäbe es schon zu sagen?
    Sie hat recht, es ist nicht ihre Generation, sie war ein Kind, als diese Menschen unsere Freunde und Bekannten wurden. Während es um uns beide immer stiller wurde, führte sie schon lang ihr eigenes Leben mit ihrem eigenen Freundeskreis.

    Wie immer ist es Harold, der mich mit der unangenehmen Wirklichkeit konfrontiert. Er ruft jeden Sonntag vormittag an, fragt, wie es mir gehe, und wird ungehalten, wenn ich die übliche Redewendung danke, mir geht’s gut und dir? verweigere. Du und Ilana, ihr seid im Augenblick mein einziger Kontakt zu unserem früheren Leben, beklage ich mich, niemand sonst will mit mir reden.
    Du kommst von woanders her, erklärt er mir mit nüchterner Sachlichkeit, und du wirst in absehbarer Zeit verschwinden. Wozu sollten sie sich bemühen? Außerdem war das Bild, das wir von dir hatten, kein sehr schmeichelhaftes.
    Klammere ich mich an eine Illusion, die ich nicht aufgeben kann, weil mich die Trauer um Jerome vor der Verbannung aus seiner Liebe schützt? Was hat er ihnen erzählt? Wie hat er über mich gesprochen? Wie hat er mich gesehen, und welches Bild hat er in den Monaten und Jahren meiner Abwesenheiten von mir entworfen, für sich und für die Freunde? Und was ist die Wahrheit? Wußte er, was die Wahrheit war? Habe ich solange an meinen eigenen erfundenen Geschichten einer großen Liebe festgehalten, bis ich sie glaubte? Mein Leben ist ein einziges Unglück, seit wir keine Familie mehr sind, schrieb ich ihm einmal. Wir sind eine Familie, tröstete er mich, du bist meine Freundin, meine Ratgeberin, meine Gefährtin. Aber ich wollte seine einzig Geliebte sein. Wir werden immer zueinander gehören, auch wenn einmal eine andere Anspruch auf mich hat, versicherte er mir. Wir haben nicht über dasselbe geredet, wenn wir von Liebe redeten.
    Ich beginne zu begreifen, daß mir der Versuch, Jeromes Leben mit meinen Erinnerungen zur Deckung zu bringen, nur widerspruchslos durchgeht, solange ich keine Zeugen anrufe. Ich kann zwei Drittel seiner Fotos vernichten, ich kann den
Bademantel, den ihm seine letzte Freundin zum Geburtstag geschenkt hatte, mit rachsüchtigem Vergnügen in den Müll werfen, und all die kleinen Andenken, die Musikkassetten und CDs, die ihn an schöne Augenblicke erinnerten, ich kann sein Leben im nachhinein zensieren, aber ich kann seine Erfahrungen nicht ungeschehen machen. Es gab eine Wirklichkeit, und es gibt Zeugen. Und ich kann nicht wissen, was seine Wahrheit war. Trotz der großen Nähe zwischen uns blieben wir füreinander unfaßbar. Wir konnten voneinander nicht wissen, was wir dachten, und ich kann auch nicht wissen, wie er zu anderen über mich redete. Zählt üble Nachrede aus Überzeugung als Verrat? Könnte es sein, daß wir in verschiedenen Welten lebten, von Anfang an, immer wieder, bis zuletzt? Daß uns nie bewußt wurde, wie sehr wir im Käfig unserer eigenen Wahrnehmungen gefangen saßen, weil wir sie für die Wirklichkeit hielten? Und wessen Wahrheit war die richtige? Oder waren beide falsch? Gibt es eine dritte Wahrheit? Wenn ich mit seinem Bruder redete, sah ich mich einen Augenblick lang mit seinen Augen, ich sah seine Wirklichkeit, und sie traf mich wie ein vernichtender Schlag. Ist sie Jeromes Wahrheit? Ich betrachte Jeromes Porträtfoto auf dem Weinregal, das amüsierte, boshafte Glitzern in seinen Augen sagt: Du kriegst mich nicht, da sterbe ich lieber. Solange er am Leben war, konnte ich seine Widersprüchlichkeiten wie einen Feldblumenstrauß mit seinem unverwechselbaren Duft in einer Hand halten, ein wenig herb, ein wenig wild, mit der flüchtigen Süße vergangener Zärtlichkeiten, und alles konnte nebeneinander bestehen. Was es zusammenhielt war das Vertrauen, daß wir trotz aller Bocksprünge und Eskapaden immer füreinander dasein würden. Jetzt ist alles in

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