Wenn du wiederkommst
Schabbat nach Jeromes Begräbnis für immer. Auch Ruben’s sperrte zur gleichen Zeit zu, Jeromes Lieblingsdeli, wo man die üppigsten Sandwiches bekam. In der Woche davor verschwand Tower Records, die letzte große Musikhandlung für klassische Musik, und eine Woche später die kleine Buchhandlung in der Newbury Street, in der Jerome nach den Autographen stöberte. Alles, was ich erfahre und was mir zustößt, sind Chifften des Todes, überall teilt er seine Schläge aus, nichts ist mehr vor ihm sicher. Auch wenn ich mich dagegen sträube, die Realität von Jeromes Tod zu begreifen, kann ich die vielen Veränderungen nicht ignorieren, die das Gehäuse unseres Lebens und unserer Erinnerungen zum Einsturz bringen. Was mir zu anderen Zeiten wie der normale Lauf der Dinge erschienen wäre, daß kleine Geschäfte schließen und große zusammengelegt werden, hat nun eine unheimliche Bedeutung. Der unaufhaltsame Fortgang der Welt schließt Jerome aus und drängt ihn ins Vergessen, und von allen Seiten dringt nur die eine Botschaft auf mich ein: Versteh es endlich, er kommt nicht mehr zurück, nichts wird wie früher sein.
Die rückwärtige Hälfte von Filene’s, dieses viktorianischen, ein wenig martialischen Wahrzeichens des Merkantilismus aus dem neunzehnten Jahrhundert, mit seinen steifen Kapitellen und dem ovalen Portal Inbegriff aller Department Stores seit 1911, ist bereits abgerissen, während im Parterre der Ausverkauf weitergeht. Am II. September 2001 waren wir zum letztenmal gemeinsam in Filene’s gewesen, um Jeromes abgetragenen Wintermantel durch einen neuen zu ersetzen. Er
sträubte sich, fand den alten noch ganz brauchbar, aber Harold hatte schon im Winter davor gesagt: Du siehst wie ein Hausierer aus. Später, als jeder wie unter Schock ausführlich berichtete, an welchem Ort, bei welcher Tätigkeit ihn die Nachricht vom Terroranschlag angetroffen hatte, als die Nation in einem kollektiven Innehalten erstarrte, konnten wir nur sagen, wir waren im obersten Stockwerk von Filene’s, als ein freundlicher Manager uns bat, das Gebäude sofort wieder zu verlassen. Eine Feuerübung? fragte Jerome. Nein, sagte jemand, das World Trade Center ist gerade eingestürzt. Auch den alten Mantel habe ich in einen Kleidersack der Caritas gesteckt, am Kragen speckig und abgewetzt, das Futter zerrissen, aber Jerome hatte sich von da an geweigert, einen neuen Mantel zu kaufen. Es bringt Unglück, sagte er, das kann ich nicht verantworten. Ich bin froh, daß ich ihn davor bewahrt habe, mir an unserem letzten Tag im April einen Mantel zu schenken und dafür mit seinem Leben zu bezahlen.
Alles scheint in Auflösung begriffen, eine neue Ära, heißt es, neuer, größer, zeitgemäßer, aber ich sehe nur die Vernichtung so vieler unsichtbarer Spuren von Menschen, die sich hier mit vergänglichen Versprechen auf ein besseres Leben trösteten. Im Parterre, wo man früher Accessoires und Modeschmuck kaufen konnte, stehen Stangen mit Abverkaufsware, verschmierte, häßliche Fetzen, um achtzig, neunzig Prozent reduziert. Und alle, die es sich früher nicht leisten konnten, wühlen benommen in den Kleiderhaufen, stehen vor den Umkleidekabinen Schlange. Junge Mädchen betrachten sich mit verklärten Gesichtern in den Spiegeln zwischen den Kabinen, streichen sich sanft über den Körper und lächeln glücklich, in jedem Fetzen sind sie schön. Daneben suchen verwahrloste, aus der Form gelaufene Frauen mit hastigen Händen,
schieben die Kleiderbügel weiter, als schleuderten sie die Kleidungsstücke zum Abfall mit der ärgerlichen Geste, die dem Glück gilt, das sich ein Leben lang entzieht. Wenn sie sich in den Spiegeln betrachten, sieht man in ihren Gesichtern keine Illusionen, hier finden sie nichts, was ihrem Leben eine Wende geben könnte, sie wissen es, und trotzdem treibt eine zornige Ungeduld sie weiter. Am Rand, wo früher die teuren Handtaschen in Vitrinen standen, hängen noch immer die Pelzmäntel wie vor acht Wochen, auch der Mantel, den Jerome mir kaufen wollte, ist noch da. Verkäuferinnen ohne Makeup, gehetzt, als stünde eine Flucht bevor, stopfen die Ware in Plastiksäcke ohne Logo, und keine Musikberieselung macht das Einkaufsparadies zu einem schönen Traum. Es ist ein nackter, roher danse macabre, ein Kehraus, der alle Masken abgestreift hat. Kleidungsstücke, einst mit sehnsüchtigen Blicken liebkost und mit Bedauern zurückgelegt, sind jetzt Müll, nichts hat mehr den geringsten Wert, die Schleuderpreise sind nur
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