Wenn du wiederkommst
meine Vorstellungskraft, daß er zu dieser Stunde gestorben ist. Ich sitze auf der Bank mit meiner von der Zukunft abgeschnittenen Vergangenheit, und das Leben erscheint mir wie ein unergründliches, mit der Fremdheit des Todes versiegeltes Geheimnis, vor dem mir schaudert. Die Bank ist meine Bühne für den zweiten Akt, der nicht stattfinden wird, und ich warte vergeblich auf meinen Partner für dieses Stück, denn es ist ein Ein-Personenstück und heißt: Die Anatomie der Trauer. Hunderte von Menschen sind heute in diesem Park, Millionen leben in dieser Stadt, es fehlt nur einer, aber für mich war er die Stadt, er war der Brennpunkt all dessen, was sie für mich bedeutete. Jetzt hat sie sich vor mir verschlossen. Als ich schließlich aufstehe und zur Beacon Street zurückgehe, kommt es mir vor, als sei alles rundum in Farbe und ich ginge durch die Menge wie ein Schatten aus einer anderen Welt, in der es nur Grau und Schwarz gibt. Erst als ich an der steinernen Brücke
die Mittelachse des Parks überquere, lasse ich ihn bei den Toten zurück und trete aus unserem Kreis heraus, ich höre den Nachhall seiner Stimme, beruhigend und ein wenig ironisch, ich glaube, ich höre ihn bye, darling sagen.
Ich bin an J.J. Teaparty vorbeigegangen, sage ich am Abend zu Ilana, ich bin lange davorgestanden, aber ich habe mich nicht hineingetraut, ich weiß nicht, warum.
Ich war drin, entgegnet sie.
So haben wir beide an diesem Tag das gleiche getan, Jeromes Tod umkreist, den Ort seines Sterbens auskundschaftet, uns wieder einmal so nah, wie es Lebenden möglich ist, an ihn herangepirscht und nach einer letzten unsichtbaren Gegenwart von ihm gesucht.
Was hast du dort gesagt? frage ich Ilana.
Ich habe gesagt, ich bin seine Tochter.
Bin ich deshalb nicht hineingegangen, weil ich nicht gewußt hätte, wie ich mich vorstellen sollte? Weil ich nicht wußte, was ich für ihn war?
Sie waren sehr freundlich, berichtet Ilana, sie drückten mir ihr Beileid aus, alle kannten sie ihn von früher. Sie haben mir gezeigt, wo genau er gestanden ist, als er bewußtlos wurde, alles haben sie mir erzählt, bis ins Detail, aber über seinen letzten Witz waren sie sich nicht einig, nur daß er sich selber ein altes Schwachherz genannt hat. Übrigens, Ilana grinst mich schalkhaft an: Louise war auch schon dort, sie sagte, sie sei seine Braut.
Gut, daß ich draußen geblieben bin, das hätte sie verwirrt.
Im Märchen, versichert mir Ilana, wäre diejenige, die sich aus Furcht oder Ehrfurcht nicht einzutreten traut, die Richtige.
Dreißig Jahre lang war das Haus mit der unscheinbaren Straßenfront und dem weiten Blick über den Fluß unser Zuhause gewesen, und die Möbel darin unsere Möbel, ebenso die Bilder, die Teppiche, die Gebrauchsgegenstände und auch das Porzellan in der Vitrine, das Jerome früher allein, später mit mir gemeinsam gesammelt hatte. Als ich vor fünfzehn Jahren auszog, nahm ich nichts mit, nur das, was mir gehörte, ein paar Bücher, Kleidung, Manuskripte, und bald kam ich zurück, zuerst auf Besuch, dann für länger und brachte Dinge aus Europa und Israel mit, die fehlten, eine Kaffeemaschine, Musikkassetten, Bettwäsche, Servietten, silberne Kerzenleuchter, einen neuen Sederteller. Und jetzt auf einmal gibt es nichts mehr, was uns gehört, weil es uns nicht mehr gibt, und die verwaisten Dinge werden aufgeteilt, und jeder nimmt das, wovon er glaubt, daß es zu ihm gehört und ihn mit Jerome verbindet.
Harold und Emily reisen an, um sich das ihre abzuholen. Er hat seit Jeromes Tod Herzbeschwerden, alle Symptome von Angina Pectoris, und ruft stündlich seinen Kardiologen an, um einen Termin für eine Bypass-Operation zu bekommen. Standen sie einander so nah, daß der lebende die Krankheit des toten Bruders auf sich zieht? Ist es der abwegige Versuch des kleineren Bruders, sich in den Mittelpunkt zu drängen? Oder ist es einfach nur Zufall? Sie packen Nippes und Familienporzellan sorgfältig ein, suchen Kindheitsfotos der beiden Brüder aus den Stößen von Fotos aus, einen Glaswürfel mit Fotos ihrer Eltern als junges Paar und Harold, der seinen Erstgeborenen stolz der Kamera präsentiert. Harold geht von Möbel zu Möbel, die gedrechselten Schränke aus meinem Elternhaus hätte ich gern, wenn es dir recht ist, sagt er, auch die Achatlampe ist ein altes Stück meiner Großmutter und das geschnitzte Schachspiel, ich habe mir nach dem Tod unserer
Eltern ja nichts genommen, betont er, ich habe damals noch studiert. Die
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