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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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dass hinter der Forderung nach guten Noten noch etwas anderes als nur der Wunsch nach Erfolg steht. »Viele meiner Studenten
leben in einer Welt, die auf ihre Weise postzynisch ist. Sie lesen und schreiben, weil sie es tun müssen, um ihre Note zu bekommen. Sie halten die Aufgaben nicht unbedingt für sinnvoll an sich. Weniger Studenten als früher scheinen zu erkennen, dass der Prozess wichtiger als das Ergebnis ist.« Wenn sie sie bittet, über Themen zu schreiben, mit denen sie sich nicht auskennen, oder eine Aufgabe zu machen, die aus dem Rahmen fällt, sind sie verwirrt. Warum sollen sie das tun? Sie wollen die Note, nicht den Lernprozess.
    Professor Marks glaubt, dass eigene Wichtigkeit und Anspruchsdenken die Fähigkeit der Studenten, den Wert von Authentizität zu würdigen, getrübt haben. Wie Ehrlichkeit ist auch Authentizität eine Stärke, die man anfangs von außen her schwer verstehen kann. Wenn man auf äußeren Erfolg, die Manipulation anderer oder Status erpicht ist, ist es sehr schwierig, den Wert von Authentizität zu sehen: der Fähigkeit, durchschaubar und offen, aufrichtig und ehrlich zu sein. Jeder gute Antiquitätenhändler weiß: Wenn etwas au thentisch ist, ist es echt, vertrauenswürdig und auf Wahrheit oder Tatsachen gegründet.
    Professor Marks glaubt ebenso wie Kyle, dass die Kinder von »Ich bin okay, du bist okay«-Eltern in Beziehungen und bei Tests vielleicht deshalb mehr schummeln, weil sie nicht verstehen, welchen Wert es hat, aus negativem Feedback zu lernen und die Verantwortung für Fehler und Misserfolge zu übernehmen. Diese Angehörigen der Generation Ich sind mit dem primären Augenmerk auf Erfolg aufgewachsen: Ich will meine Noten haben, meine Spiele gewinnen, meine Freunde besuchen. Ihre kindliche Egozentrik setzt sich unter Umständen bis in die späte Adoleszenz und die
Anfänge des Erwachsenenalters fort, weil sie unbeabsichtigt davon verstärkt wurde, zu viel Gewicht auf individuelle Chancen und Erfolge zu legen.
    Professor Marks berichtete mir von einem Aufsatzthema, das ihre Studenten gewählt hatten: das Belügen der Eltern. »In einer Klasse von zwanzig Studenten hatte natürlich jeder seine Eltern belogen, und die meisten Studenten gingen davon aus, dass es so sein müsste. Sie hielten es nicht für ungewöhnlich zu lügen, bis auf einen Studenten, einen jungen Mann, der in Amerika als Sohn vietnamesischer Eltern zur Welt gekommen war. Er schilderte eine Gelegenheit, als er seine Eltern belogen hatte, und die damit verbundenen Gewissensbisse. Auch wenn er nicht unbedingt die Lüge selber zurücknahm, spürte er, dass etwas zutiefst falsch am Lügen war.« In seinem Aufsatz schilderte dieser junge Mann seine Gewissensbisse, weil er sich gegen seine eigenen Werte vergangen hatte. Professor Marks bat den Studenten, seinen Aufsatz vor der Klasse laut vorzulesen. »Erst weigerte er sich, aber als er es schließlich tat, waren der Aufsatz und das Vorlesen wunderbar. Die anderen Studenten waren echt schockiert. Das war nichts, was ihnen in den Sinn gekommen wäre.«
    Wie schon deutlich wurde, besteht das grundlegende Problem des Lügens darin, dass es die moralischen Strukturen zerstört und Authentizität und Vertrauen zwischen uns verhindert. Wenn wir uns gegenseitig keinen Glauben schenken können, wenn es keine wirkliche Transparenz gibt, können wir uns auf das, was wir miteinander besprechen, nicht verlassen. Sobald wir die Rettungsleine der offenen Kommunikation aufgegeben haben, treiben wir ab und können uns nicht
mit der vitalen Kraft verbinden, die in der Interdependenz steckt. Noch einmal Gigi Marks: »Neulich las ich einen Aufsatz von einem meiner besseren Studenten, der sich recht gut auszudrücken versteht. Er schrieb, dass er sich selbst primär als Lügner betrachtet. Er fand die Gewohnheit des Lügens zutiefst problematisch, weil es ihm nicht gelang, herauszufinden, wer er wirklich war. Aber er schrieb auch, dass er sich mit Lügen höchst erfolgreich durch die Welt lavierte, in der das Lügen verbreitet ist. Das fand ich sehr traurig, denn er ist begabt.«
    Nach Gigi Marks geht diese Unehrlichkeit Hand in Hand mit einem weiteren Problem der Authentizität: dem Betrügen in Liebes- oder sexuellen Beziehungen. 22 »Allem Anschein nach ist immer Nervosität da, wenn man betrügt, sich Sorgen um das Betrügen macht oder daran denkt, den Partner, die Freundin oder den Freund zu betrügen - und ihnen den Fehltritt dann nicht zu gestehen. Es ist so viel mehr

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