Wenn es daemmert
…«
Diesmal war er es, der den Schlag nicht kommen sah. Als er sie noch verwundert ansah und sich die Wange hielt, hob sie schon das Knie und stieß es ihm zwischen die Beine. Der Mann schrie auf, krümmte sich vor Schmerz, ging zu Boden und wimmerte. Mina hörte Schritte. Das Klackern von hohen Absätzen. Eine Frau rannte auf die beiden zu. Bitte nicht noch mehr Ärger, dachte Mina und wollte schon die Flucht ergreifen, als sie verstand, dass die Frau ihr helfen wollte. Sie packte den Mann am Arm und zog ihn vom Boden hoch.
»Du fährst besser nach Hause zu deiner Frau und deinen Kindern, mein Junge. Und wenn ich noch einmal sehe, dass du meine Mädchen so behandelst … Ich hab dein Kennzeichen!« Sie stieß den Mann gegen sein Auto, so wie er Mina kurz zuvor dagegengestoßen hatte, und zischte ihm ins Ohr: »Zehn Sekunden, Bürschchen, alles klar?«
Zu Minas Erstaunen nickte er eifrig, sprang in seinen Wagen und war in deutlich weniger als zehn Sekunden verschwunden.
»Danke«, sagte Mina.
Die Frau lächelte. Mina schätzte sie auf Anfang vierzig. Sie war sehr attraktiv und vor allem gut und teuer gekleidet. »Wie gesagt, ich passe gut auf meine Mädchen auf. Für wen arbeitest du?«
»Ich habe schon versucht, ihm das zu erklären. Ich habe mich mehr oder weniger verlaufen.« Mina hatte den Mut verloren, weiter nach Pepa zu fragen. Sie wollte nur noch weg von hier.
»Natürlich. Falls du dich hier einmal nicht – verläufst, dann melde dich bei mir. Meine Mädchen haben es gut.« Sie steckte Mina eine Visitenkarte zu.
»Danke«, sagte Mina. »Für alles.«
14.
Die Nacht, die um diese Zeit des Jahres nur kurz und dann auch nicht richtig kam, veränderte die Atmosphäre von St. Andrews. Die viktorianischen Gebäude malten sich wie kleine gotische Schlösser schwarz gegen den dunkelblauen Nachthimmel ab. Im orangefarbenen Licht der Straßenlampen konnte man, wenn man aufmerksam war, für den Bruchteil einer Sekunde die Fledermäuse sehen. Von der See her blitzten einsame Leuchtturm- und Schiffslichter herüber wie Schmugglersignale aus einem anderen Jahrhundert. Isobel tauchte für einen verschwommenen Moment in dieses andere Jahrhundert ein, bis die tiefen Bässe eines Technosongs sie zurückholten. Abends trafen sich gerne Jugendliche auf dem Parkplatz des Old Course, um sich den Sonnenuntergang anzusehen, um Musik aus den Autoradios dröhnen zu lassen und um später zu knutschen.
Die Technomusik kam aus einem alten, roten Golf, den ein blondes Mädchen mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz steuerte. Sie hielt neben einem silbernen Clio und stieg aus, die Musik lief weiter, die Fahrertür blieb offen. Das Mädchen öffnete die Beifahrertür des Clios, zerrte einen schlaksigen Jüngling heraus und schrie ihn an. Schnell gesellte sich die Fahrerin des Clios zu ihnen und schrie den Jungen ebenfalls an. Die beiden Mädchen stießen ihn zwischen sich hin und her. Dann stürmten sie zurück zu ihren Autos und fuhren weg. Der Junge jagte ihnen hinterher. Welche er lieber erreichen wollte, blieb unklar. Als er einsehen musste, dass er das Rennen verloren hatte, blieb er mitten auf dem Parkplatz stehen, warf seine Jacke auf den Boden und fluchte laut, bis ihn der Security-Mann vertrieb, der jede Nacht für den Royal and Ancient Golf Club seine Runden um die Plätze und das Clubhaus drehte.
Isobel lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln, denn die Szene kam ihr seltsam vertraut vor. Nicht mit Autos auf einem Parkplatz und Technomusik, aber mit zwei Frauen und einem Mann, der die falsche küsste.
Isobel wandte sich vom Strand ab und drehte eine kleine Runde über den leeren Golfplatz. Sie wollte sehen, was Sandra Robertson gestern Nacht gesehen hatte, und weiter nach Zeugen suchen. Vielleicht gab es noch jemanden, der sie zusammen mit dem Italiener gesehen hatte. Vielleicht gab es aber auch jemanden, der sie danach gesehen hatte, lebendig, weil der Italiener möglicherweise doch die Wahrheit sagte. Aufgrund dessen, was sie bisher gegen ihn in der Hand hatten, würde kein schottisches Gericht den Mann verurteilen. Es würde nicht einmal für eine Anklageerhebung reichen. Allein darauf, was die Rechtsmediziner in den nächsten Tagen im Labor finden würden, wollte sich Isobel nicht verlassen. Zu oft hatte sie Geschichten von Prozessen gehört, in denen die Spuren so lange hin und her erklärt worden waren, bis der Angeklagte nach der Verhandlung im nächsten Pub etwas zu feiern hatte.
Andrea Manzi
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