Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Aschenbrödel
stieg ein hagerer, kleiner Mann in einem maßgeschneiderten weißen Anzug aus der Limousine. Sein dunkles nackenlanges Haar war zurückgekämmt und mit Gel fixiert, dennoch sah man deutlich seine hohe Stirn und damit in etwa sein Alter. Den Gehstock, den er mit sich führte, benötigte er nicht, er diente lediglich als eine Art Accessoire, denn er stieg die Treppe mit Elan empor. Er lächelte, als Joy ihn begrüßte und seinen Mantel entgegennahm.
„Antonio Piretti, ich glaube, ich werde erwartet.“
Mister Piretti sprach mit schwerem italienischem Akzent, aber klang durchaus charmant, während sein Lächeln jedoch die stahlblauen Augen nicht erreichte.
Joy führte den Italiener mit seinen beiden Bodyguards zum Salon. Die Größe und Breite der Männer wirkte bedrohlich, es benötigte ihren mühselig anhaltenden, kalten und gefährlichen Gesichtsausdruck überhaupt nicht. Allein der Weg bis zum Roten Salon ließ Joy einen steten kalten Schauder den Rücken runterrieseln und sie war froh, den Raum wieder verlassen zu dürfen.
„Jetzt fehlt nur noch ein Gast, dann sind wir komplett.“
Erneut blieb Joy am Eingang stehen und sah zu, wie die weiße Limo mitsamt den Begleitfahrzeugen umgeparkt wurde. Dann rollte der nächste Edelblechconvoi an, schwarze Wagen und schon aus der Ferne war ersichtlich, dass sie allesamt gepanzert und als Sonderausfertigung ihrer Wagenklasse hergestellt worden waren. Das Bild des russischen Mafiabosses kannte Joy aus der Zeitung bereits und erkannte ihn sofort, als er aus dem mittleren Wagen stieg. Er kam nicht allein, mal abgesehen von den vier Leibwächtern, die mit ihm die Treppe heraufstiegen. Eine sehr junge Brünette mit grotesk knappem Kleidchen, das mehr zeigte als verhüllte, hakte sich bei dem sehr großen, weißhaarigen älteren Mann unter.
„Dragan Wolkow.“
Obwohl auch er lächelte, klang seine Stimme, als könne er Wasser zu Eis gefrieren. Allein die Anwesenheit der beiden gefährlichsten Männer der Stadt in dieser Villa, dem Haus ihres Vaters, war Beweis genug für Joys Vermutung. Lisa schien Großes vorzuhaben und diese Party diente wohl zum Zweck, ein kriminelles Bündnis zu besiegeln. Sie schluckte, nickte und zeigte der russischen Delegation den Weg.
Lisa begrüßte den Russen mit gespielter Fröhlichkeit und als wären sie alte Freunde. Mit Tablett reichten die jungen Dienstmädchen Getränke und leise Musik säuselte durch den Salon. Joy erinnerte sich an Leonies Gerüchte, von denen sie ihr auf dem Ball erzählt hatte. Es hatte also tatsächlich schon vorher Treffen mit diesen beiden Mafiabossen gegeben. Wut stieg in ihr empor, kalte Wut, denn dies her war das Haus ihres verstorbenen Vaters.
„Joy, nimm die Mädchen mit, ihr könnt euch zurückziehen. Wenn ihr gebraucht werdet, rufe ich.“
Joy sammelte kommentarlos die jungen Frauen ein und schloss die Flügeltüren des Roten Salons. Sie zeigte ihnen die Gästezimmer, damit sie sich zurückziehen konnten, während Joy über die Terrasse zu dem Cottage ging, das sie selbst bewohnte.
Sie setzte sich auf ihr Bett in dem großen Zimmer, das sowohl als Wohn- als auch Schlafzimmer inklusive einer kleinen Kochnische diente. Angrenzend gab es noch ein kleines, aber sehr hübsches Bad mit Dusche. Ihr eigenes kleines Reich. Minutenlang starrte sie das schnurlose Telefon auf ihrem Nachtischchen an. Nur drei Zahlen, die sie hätte einzutippen brauchen, neun, eins, eins! Doch was hätte sie sagen sollen? Gefährdete sie mit diesem Anruf nicht ihr eigenes Leben und das von Leonie, die noch immer im Haus war? Das Gefühl von Ohnmacht ließ sie wie Stein erstarrt dort sitzen, fassungslos und mit rasenden Gedanken.
Plötzlich riss ein lautes Krachen sie aus ihren Hilflosigkeit, dann Stimmen, Schreie, Geräusche wie zersplitterndes Glas, mehrere Schüsse. Joy rannte den Steinweg hinauf zur Villa und je näher sie kam, desto mehr verstand sie die Worte, die durch das Haus hallten.
„LAPD! Lassen Sie die Waffen fallen.“
Sie blieb auf der Terrasse stehen und sah zu, wie Beamte in Zivil und Uniform sich im gesamten Haus verteilten und jeden Raum inspizierten. Erneut fielen Schüsse und jeder der Polizisten, ob er nun direkt in der Nähe oder auch nicht stand, duckte sich automatisch. Stimmengewirr, wütende Verbalschlachten folgten und jemand schrie nach einem Sanitäter.
„Kollege getroffen!“
„Stehen bleiben!“
„Ich will deine Hände sehen!“
Wie ein einziges Chaos wirkte die ganze Szenerie und doch
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