Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Die zertanzten Schuhe
Decke zur Seite und stand auf. Wie am Vorabend schon hatte er das Schwert wieder versteckt und nur den Dolch eingesteckt. Die lange Klinge des Schwertes würde ihn womöglich verraten, wenn er irgendwo anstieß.
Er schlich über den Flur und verharrte vor dem Spiegelsaal. Er hatte sich nicht getäuscht: Im Saal waren zwölf Frauen. Sie lachten miteinander, scherzten und stießen sich immer wieder neckend mit den Ellbogen an. Anscheinend freuten sie sich auf etwas, denn eine gespannte Erwartung lag in der Luft.
Nach einigen Augenblicken wurde es ruhiger und alle Frauen sahen zu dem größten Spiegel des Saals. Davor stand die Königstochter mit den blonden Locken, die Marek schon am Abend zuvor gesehen hatte. Direkt neben ihr befand sich Iza. Allein ihr Anblick bestärkte Marek in seinem Vorhaben, aber noch war es zu früh, sich zu offenbaren. Noch hatte er nicht herausgefunden, wohin die Töchter des alten Mannes jede Nacht verschwanden und was sie dort taten.
Die Frauen raunten sich etwas zu, als das Bild des großen Spiegels sich veränderte. Die Oberfläche verschwamm und wurde trüb – einen Augenblick später klärte sich das Bild wieder. Es zeigte noch immer den Spiegelsaal, aber von den Frauen, die darin standen, war auf der Spiegeloberfläche nichts mehr zu sehen. Stattdessen standen dort Männer. Marek kniff die Augen zusammen – er war nicht sicher, ob er von seinem Standpunkt aus alles sah, aber er konnte elf Männer im Spiegel zählen. Teilweise trugen sie Hosen aus dunklem Leder oder abgerissene Hemden dazu. In ihren Augen lag etwas, was Marek bereits einmal gesehen hatte. Aber nie zuvor in einem menschlichen Gesicht.
Einer von ihnen trat vor. Sein Haar war ebenso dunkel wie seine Augen und es reichte ihm bis auf die Schultern. Er lächelte und streckte auffordernd die Hand aus. Die älteste Königstochter tat es ihm nach – und griff durch das Glas hindurch.
Mareks Augen weiteten sich, als er sah, wie erst die älteste und dann nach und nach all die anderen Frauen durch den Spiegel hindurchgingen als wäre er nichts weiter als ein Schleier aus Wasser.
Als letzte trat Iza durch den Spiegel. Einen Fuß auf die andere Seite gesetzt, hielt sie inne und sah über die Schulter zurück, als würde sie auf irgendetwas warten. Sie atmete deutlich ein und folgte ihren Schwestern.
Marek wartete, bis die Silhouetten der Töchter nicht mehr zu sehen waren; rasch durchquerte er den Spiegelsaal und sprang durch das Glas hindurch.
Iza setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie trug neue Schuhe, wie jede Nacht, aber dennoch musste sie sich jedes Mal aufs Neue daran gewöhnen. Ihren Schwestern erging es ähnlich. Die Frauen bewegten sich als würden sie auf rohen Eiern gehen. Iza hielt sich ein wenig abseits von den anderen – sie waren keine wirklichen Schwestern. Der alte König hatte sie einzeln aus den umliegenden Dörfern gestohlen, als sie noch Kinder waren. Er hatte niemals geheiratet, aber sein Bedürfnis nach Kindern war so groß gewesen, dass er die Mädchen der Bauern stahl.
Trotz allem oder vielleicht aus dem Grund, dass sie alle dasselbe Schicksal teilten, bestand zwischen den jungen Frauen eine Bindung.
Iza war froh darum, denn die Frauen waren die einzige Familie, die sie kannte. Sie ging ein wenig schneller und schloss zu den anderen auf, bis sie neben Darcia lief, der ältesten Schwester. „Hast du mit Lykan gesprochen?“, wisperte sie ihr zu und warf einen Blick den Mann mit den halblangen braunen Haaren, der, wie die anderen Männer auch, vorweg lief.
Darcia legte den Arm um Izas Schulter und drückte sie tröstend. „Noch nicht. Bisher haben sie noch keinen passenden Mann für dich gefunden.“
Iza seufzte. „Ich möchte aber nicht wieder allein sein“, klagte sie und sah wieder auf die Männer. Es waren, wie in jeder Nacht, elf. Jeder hatte eine Favoritin unter den Schwestern, ebenso, wie sich die Königstöchter ihren Liebhaber ausgesucht hatten. Nur Iza war allein.
„Du kannst heute Nacht wieder zuschauen“, schlug Darcia vor. „Lykan hält jeden Tag Ausschau nach einem geeigneten Kandidaten – er will dir nicht irgendeinen Mann an den Hals hetzen.“
Abermals seufzte Iza. „Ich weiß ja, dass ihr euch um mich sorgt. Aber was ist mit dem Mann, den ich gestern gesehen habe?“
Darcias hübsches Gesicht verzog sich nachdenklich. „Ich habe ihn noch nicht gesehen und ...“
„Er war stark!“, erwiderte Iza und merkte, wie warm ihre Wangen wurden. „Du
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