Wenn Es Dunkel Wird
sein Widerstand zusammenbrechen …
»Wir müssen zu den anderen«, sagte er leise, ließ mein Handgelenk los und stand auf. Ich begriff nicht.
»Julian!«, rief ich ihm nach, ihm, der schon aufgestanden war. Eine plötzliche Kälte erfasste mich. »Julian! Zwischen mir und Claas ist es aus! Ich mache mit Claas Schluss! Julian, du kannst jetzt nicht einfach gehen! Julian! Bitte!«
Wie sehr kann man sich selbst erniedrigen?
Der grelle Sonnenschein und die Hitze draußen klatschten mir ins Gesicht, als ich aus der Höhle kam. Wie eine Ohrfeige.
Wenigstens wandten mir die anderen – bereits ungeduldig – die Rücken zu, um den Heimweg anzutreten. Alle, bis auf Julian – Julian setzte in diesem Moment seine Sonnenbrille auf und wandte sich erst dann um.
Waren ihm seine Gefühle mir gegenüber unangenehm? Schämte er sich vielleicht? Wollte er Claas nicht verärgern?
Das Schlimmste allerdings wäre, wusste ich, wenn er mich peinlich fände, weil er nichts, rein gar nichts für mich empfand.
Als ich auf wackeligen Beinen, fast mechanisch, einen Fuß vor den anderen setzte, sah ich plötzlich klar. Es war, als wische man über eine beschlagene Scheibe, im Winter im Auto oder im Zug. Mit einem Mal muss man sich nicht mehr anstrengen, etwas zu erkennen, muss nicht mehr raten, ob das ein Baum oder ein anderes Auto ist. Denn plötzlich ist alles sichtbar und eindeutig.
Genauso fühlte sich es an. Ich wusste: Ich bin peinlich, ein widerliches Anhängsel, eine Klette, die man vergeblich versucht abzustreifen.
Auf dem Rückweg sprachen nur Julian und Claas, sie alberten herum, warfen Steine, hauten sich gegenseitig in die Seite oder auf die Schulter. Das war ihre Art, die Sache in der Höhle zu bereinigen. Tammy ging voraus, schmollte und trug trotzig den Rucksack und ich bildete den Schluss, immerhin froh, mit niemandem reden zu müssen.
Die Luft flirrte und schwirrte vor Hitze, die inzwischen kaum noch zu ertragen war, als hätte sich die Sonne vorgenommen, alles Leben zu verbrennen. Der leiseste Luftzug fühlte sich auf der Haut wie fiebriger Atem an. Ich sehnte mich nach allem, was kühl war: kaltem Wasser, Kühlschrank, Eis, Eiszapfen, nach einer eiskalten Cola.
Wie in Trance taumelte ich den schmalen Bergpfad hinunter, auf das irisierende Blau des Meeres zu. Weg, weg von der unheimlichen Höhle.
Und je weiter wir uns von der Höhle entfernten, je näher wir der vertrauten Villa kamen, umso mehr schüttelte ich den Kopf über mich selbst. Warum hatte ich mich Julian so an den Hals geworfen?
Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm nun gegenübertreten sollte.
15
Kaum zurückgekommen – der Glaser hatte seine Arbeit getan, die Dusche funktionierte wieder – sprangen Claas und Julian in den Pool, Tammy war noch immer gekränkt und legte sich mit einer Zeitschrift und Julians iPod auf die Liege. Ich wollte mit niemandem reden müssen und verkroch mich ins Bett, obwohl es im Zimmer stickig war. Kein Windhauch wehte, es war noch heißer als gestern und ich dachte, ob es jetzt so weiterginge, es einfach jeden Tag heißer würde, bis wir alle langsam dahinsiechen würden.
Erst würde die Hitze die Gedanken lähmen, träge und schläfrig machen, bis man die Augen schloss und irgendwann jeden Widerstand aufgab – und niemals mehr aufwachte.
Aber so weit war ich noch nicht. Ich starrte an die Decke, die zu einer Leinwand geworden war, wo der Film in der Höhle immer und immer wieder ablief. Die weißen Knochen im Sand, die Einmachgläser, das herumirrende Licht der Taschenlampe, Julians Augen, Tammy und Julian, ich und Julian, der Kuss – der nie geschah.
Stöhnend erhob ich mich und wollte den Ventilator in der Ecke anschalten. Der Schweiß rann mir über den Körper. Dann fiel mir ein, dass wir ja immer noch keinen Strom hatten. Einen Moment stand ich einfach so da, stellte mir vor, wie mich die kühle Luft trocknen würde, und wünschte, ich hätte mich nie auf diese Ferien mit Claas eingelassen.
Wie ein Foto sehe ich diesen Moment auch jetzt wieder vor mir. Ich, nackt, vor dem Ventilator, durch die Fensterläden fällt das grelle Sonnenlicht in geschnittenen Streifen herein und legt sich auf meine Haut, zerschneidet mich in Licht und Schatten, in Hell und Dunkel.
Zu jenem Zeitpunkt, glaube ich, wollte keiner von uns noch mal in die Höhle. Und womöglich wären wir auch nicht mehr dorthin gegangen. Wenn wir dieses verdammte Buch in die Mülltonne geworfen hätten und einfach an den Strand gegangen
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