Wenn Es Dunkel Wird
Liege am Pool. Tammy holte Desinfektionsmittel und Verbandszeug und zusammen versorgten wir seine Verletzungen – nach seinen Anweisungen.
»Dank euch«, sagte er, als er die Verbände an Hand- und Fußgelenk begutachtete. »Sagt mal, könntet ihr mir jetzt noch was zu trinken holen, mir wird gerade ziemlich schlecht.«
Tatsächlich war er kreidebleich geworden. »Ich glaube«, sagte er schwach, »ich hab einen Schock.«
Tammy kam mit einer Flasche Wodka und einem Glas zurück. »Wasser wäre in dem Fall wohl eher angebracht«, sagte ich und unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen.
Doch Claas gab Tammy mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie eingießen sollte.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich Tammy schuldig fühlte, ja, ob sie überhaupt begriff, dass Claas etwas von ihr wollte. Typen wie er interessierten sie schlichtweg nicht.
Wir sahen ihm zu, wie er das Glas in zwei Zügen leerte.
Ein wenig Farbe war schon wieder auf sein Gesicht zurückgekehrt. Er wirkte ungewöhnlich ernst, sein spöttisches, zynisches Grinsen war verschwunden.
»Ich hab gestern Morgen eine Karte gezogen.« Er warf mir einen Blick zu. »Du weißt es, Mel. Sag ihnen, was es für eine war.«
Eigentlich wollte ich auf diese Frage nicht antworten, aber als Julian fragend die Brauen hob und Tammys Mundwinkel zuckten, als wollte sie mir gleich eine Gemeinheit entgegenschleudern, sagte ich, wenn auch widerwillig: »Der Turm.«
»Genau«, er nickte, »zum zweiten Mal. Und jetzt erklär uns doch noch einmal, was der Turm bedeutet.«
»Claas«, versuchte ich es, »ich finde, wir sollten nicht mehr mit diesen Karten …«
»Sag ihnen, was es bedeutet!«, unterbrach er mich. Zögerlich sagte ich: »Drastische Veränderungen, meist einhergehend mit Unfällen …«
»Da habt ihr’s!«, fiel er mir ins Wort. Claas glaubte an die Karten, was war mit ihm passiert? Zuerst sagte keiner was, dann verdrehte Tammy stöhnend die Augen. »Jetzt fängt Claas auch noch damit an!«
Claas fuhr auf. »He, du brauchst nicht in der dritten Person über mich zu sprechen, ich bin noch bei vollem Bewusstsein!«
»Bei vollem Bewusstsein? Ja, du bist total durchgeknallt, das bist du! Wer macht denn so was, stellt sich mit ’ner Pille intus auf die Mauer und glaubt, er kann fliegen!« Tammy schüttelte abschätzig den Kopf.
»Okay, war nicht besonders clever, geb ich zu, aber … wisst ihr, als ich da runtergeflogen bin …«
»Kann nicht länger als eine halbe Sekunde gedauert haben«, wandte Julian ein, worauf Claas eine wegwerfende Handbewegung machte. »Ich meine, als ich da unten lag, hab ich nachgedacht.«
»Über dein Leben«, witzelte Julian.
»Nein, kein Scheiß, ich hab wirklich nachgedacht. Über diese Karten. Und über Quantenphysik …«
»Über den Urknall oder was?«, zog ihn Julian weiter auf.
»Das Elektron«, fuhr Claas fort, »bewegt sich, wie es der Beobachter sieht … okay? Es kommt auf den Beobachter an. Und so ist es mit den Karten: Das, was sie zeigen, erfüllt sich, weil wir es so sehen, weil wir es insgeheim erwarten …«
»Mann«, sagte Julian und schlug ihm auf die Schulter, dass er zusammenzuckte, »du hast nicht nur einen Schock! Du hast auch noch was an der Birne!«
»Melody«, wandte sich jetzt Tammy mit einem so miesen, falschen Lächeln an mich, dass ich eine Gänsehaut bekam, »du musst doch jetzt unheimlich stolz auf dich sein! Jetzt hast du immerhin schon mal Claas so weit, Melody, Königin der Manipulation! Ach, by the way: Gibt es so eine Karte in deinem Spiel?«
Ihr Lächeln war hinterhältig. Niemand sagte etwas. Und es kam mir vor wie der Moment, wenn man ein brennendes Streichholz an einen Gaskocher hält. Dieser kurze Moment, in dem man auf das Hochschießen der Flamme wartet und weiß, dass man sofort zusammenzucken wird.
»›By the way‹«, sagte ich, ihren Tonfall nachäffend, »wenn du mir solche Fähigkeiten zutraust, dann scheinst du ja nicht sehr ›self-confident‹ zu sein.«
Daraufhin errötete sie, nein, das ist der falsche Ausdruck, sie lief rot an und die Adern an ihrem Hals pulsierten. Tammy verschlug es für einen Moment die Sprache.
»Du bist doch … das Allerletzte!«, fauchte sie dann.
Was für ein Triumph, als sie sich daraufhin erhob und im Haus verschwand!
Doch mein Triumph währte nicht allzu lang, denn Claas stieß zwar einen anerkennenden Pfiff aus, Julian jedoch stand kommentarlos auf und folgte seiner Schwester.
Großartig, Mel! Ich trieb ihn ja direkt in
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