Wenn Es Dunkel Wird
ihre Arme. Keine Chance, dass ich jemals meine Hoffnungen, Julian betreffend, aufgeben würde. Welche Demütigungen willst du noch ertragen, Mel, bevor du ihn endlich aufgibst?
Oben im Zimmer setzte ich mich aufs Bett, nahm die Karten in die Hand und schloss die Augen.
Hatten die Karten wirklich etwas mit uns gemacht? Oder war es vielmehr so, dass sie uns mit der Wahrheit und unseren wahren Gefühlen konfrontierten?
Und wie würde es weitergehen, wenn die Gefühle weiterbrodelten und an die Oberfläche drängten?
Übermorgen würde ich mit Claas abreisen.
Könnten wir bis dahin noch durchhalten? Wollten wir es überhaupt? Oder sehnten wir uns nicht nur nach einem echten, sondern auch nach einem emotionalen Gewitter?
Ich atmete tief ein und versuchte, an nichts zu denken. Dann konzentrierte ich mich. Diesmal wollte ich eine ermutigende Karte, eine positive, eine kraftvolle … Ich wollte weder Opfer noch »Königin der Manipulation« sein, wie Tammy sich ausgedrückt hatte.
Aber: Was kümmert das Schicksal unsere Wünsche?
Ich zog die Neun Schwerter. Die Grausamkeit.
Allein das Bild sprach für sich: Blut tropft von den Klingen der Schwerter, im Hintergrund tropfen Tränen.
Grausamkeit gegenüber sich selbst – heißt es in der Erklärung.
Ich zog eine weitere. Viel schlimmer konnte es ja nicht werden – dachte ich.
Falsch. Ich zog die Zehn Schwerter. Eines durchbohrt ein Herz. Der Untergang.
Angst vor der destruktiven Energie angestauten Ärgers, stand da.
Ich kapitulierte. Die Karten präsentierten mir ein düsteres Schicksal. Und mir blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder an sie – oder nicht an sie zu glauben.
23
Wann hat er es zum ersten Mal gesagt?
Am Nachmittag, nachdem wir von unserer Wanderung zurückgekommen waren? Oder schon, als wir das Buch auf dem Speicher gefunden haben? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, nein, ich glaube, ich will mich nicht genau daran erinnern, weil ich dadurch ein weiteres Stück Mitschuld an dem trage, was passierte.
»Ich wünsche mir eine Geburtstagsparty – bei Vollmond in der Höhle!«, so hatte es Claas verkündet.
»Mich bringen keine zehn Pferde mehr da rein«, sagte Tammy sofort.
Es folgte ein Hin und Her.
»Ach, komm, Tammy, es ist doch mein Geburtstag.«
Ach nein – ach doch – bitte – bitte ja, mir zuliebe …
Ich bin gemein, ja, denn natürlich wollte ich auch nicht mehr in die Höhle, aber allein, um Tammy eins auszuwischen, zeigte ich mich begeistert.
Julian grinste über den Schlagabtausch, meinte dann aber mit Blick auf Tammy: »Ich weiß nicht, ob das wirklich so eine gute Idee ist.«
»Ach, kommt schon, das wird bestimmt total cool«, sagte Claas.
Ich witterte eine Chance, mich wenigstens ein bisschen für Tammys Gemeinheiten zu revanchieren. »Nun, ich kann schon verstehen, dass sich Tammy fürchtet. Meine kleine Cousine traut sich auch nicht ins dunkle Kinderzimmer, sondern erst wenn zuvor Licht angemacht wurde und es brennt, bis sie eingeschlafen ist.«
Tammy ging nicht darauf ein. »Wie blöd muss man denn sein, um noch mal freiwillig in diese Höhle zu gehen?« Sie schüttelte den Kopf, ja sie hatte recht, aber das sagte ich ihr natürlich nicht.
»Schräg, stimmt!«, lachte Claas. Plötzlich wurde er ernst und warf sich vor ihr auf die Knie. »Liebe Tammy, ich möchte dich zu meinem Geburtstag einladen, sei doch bitte so gnädig und komm!«
Tatsächlich hatte er es geschafft, sie zum Lächeln zu bringen.
»Heißt das … ja?«, fragte er mit schräg gelegtem Kopf. »Oder … ja?« Oh, du bist so gemein, Claas, mich hättest du nie so angebettelt, schau dich doch mal an!, dachte ich.
Ich glaube, es war so etwas wie Flucht. Äußerlich mögen der Stromausfall und ein lästiger Stalker im Garten des Nachbarn schuld gewesen sein, aber im Grunde flohen wir vor unseren Emotionen und all den Spannungen, die zwischen uns standen.
Doch das war mir – und den anderen – zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
Und so kam es, dass wir uns am Abend zur Höhle aufmachten, um Claas’ Geburtstag zu feiern. In der Dämmerung war der Mond schon aufgegangen, eine helle und monströse Scheibe, die mich trotz der Hitze frösteln ließ.
Denn obwohl ich mir sagte, dass Henry Paiges Prophezeiung für die Vollmondnacht purer Quatsch war, war sie mir dennoch im Ohr, genauso wie die leise Stimme, die dauernd sagte: Und wenn er recht hat?
Wir hatten alle schon ein bisschen was getrunken, vielleicht wären wir ja sonst zu Hause
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