Wenn Es Dunkel Wird
lossagst.«
»Klingt ja wahnsinnig dramatisch«, sagte Tammy gähnend, ihre Augen umgaben dunkle Schatten.
»Also, Julian«, Claas grinste. »Wer hat dich denn so dermaßen ausgesogen – Gina?«
Julians Blick kehrte aus der Ferne zurück. »Was?«
»Mann, ob du dich ausgesogen fühlst«, wiederholte Claas, »ob du das Gefühl hast, nichts von einem Menschen zurückzubekommen?« Tammy sah mich vollkommen ausdruckslos an. Merkte sie nicht, dass sie damit gemeint war?
»Nein«, sagte Julian überrascht und mit einem Blick auf Tammy, »nein, überhaupt nicht.« Wie er sich doch selbst belog …
»Tja, dann zieh doch einfach eine neue«, sagte ich und hoffte, dass es dann noch deutlicher würde. Und Tammy? Ich meinte, ein Zucken ihrer Mundwinkel zu bemerken, als Julian wieder zu den Karten griff.
Ist Claas der Einzige unter uns, der überhaupt nicht begreift, worum es geht? Oder unterschätze ich ihn? Wieso hatte er sich mit Julian im Pool einen Kampf geliefert?
Julian hob ab und breitete die Karten fächerartig vor sich aus.
Er ließ seine Hand darüber schweben und entschied sich dann für eine am linken Ende. Ich hielt die Luft an.
»Schwerter!«, verkündete Claas und begann, im Buch zu suchen. »Hier: Drei Schwerter. Mitunter kann diese Karte auch auf eine spannungsgeladene Dreierbeziehung hinweisen. Eine dritte Person dringt in die harmonische oder langweilige Zweisamkeit ein und versucht, diese zu sprengen.«
»Dreierbeziehung!« Es war Tammy, die lachte. »Aber wir sind doch vier, oder?«
»Hier ist aber von einer Dreierbeziehung die Rede«, erinnerte ich, das Feuer schürend.
»Und wennschon«, sagte jetzt Julian. »Glaubt ihr denn wirklich, dass diese verdammten Karten die Wahrheit sehen?« Er griff zu seinem schon wieder fast leeren Kelch.
»Ist doch nur ein Spiel!«
»Das bescheuerte Spiel von Henry Paige!«, Tammy lachte hell auf. Sie war betrunken oder jedenfalls ziemlich nah davor.
»Dreierbeziehung!«, rief Claas amüsiert und goss uns allen nach. »Zweifel, Ängste, Sorgen begrenzen die Weite des Geistes! Tja, Julian, schlechte Karten, was?«
Julian starrte ihn an. Selbst Claas musste erschrocken sein, denn er hielt ausnahmsweise den Mund. Einen Augenblick lang schien alles stillzustehen.
Dann brach die Lawine los.
Mit einer heftigen zornigen Bewegung fegte Julian die Karten weg. »Das ist doch alles ein einziger Scheiß!«
Claas packte ihn am Arm. »Aha«, meinte er, »jetzt kommen wir der Wahrheit also langsam näher!« Sein Gesichtsausdruck war herausfordernd und ich befürchtete, er wollte sich an Julian rächen, weil Tammy sich nicht für ihn interessierte. »Du kannst dich nicht so einfach davor verkriechen, Alter!«
Julian schüttelte grob Claas’ Hand ab. »Fass mich nicht an! Ich will nichts von dir, ich bin nicht schwul!«
»Schwul? Denkst du, ich bin schwul?«, rief Claas und lachte, wie ich ihn noch nie habe lachen hören. »Du spinnst total, Julian! He, Mel, hast du das gehört? Sag ihm, dass ich nicht schwul bin!«
Schon machte ich den Mund auf, nur weil es mir befohlen wurde, da rief Tammy: »He, ich hab den Mond!«
Irgendwie war alles durcheinandergeraten, unsere Stimmen, unsere Gläser – die Flaschen vor uns, alles erschien doppelt oder verzerrt. Dinge bewegten sich, die sich nicht bewegen konnten, und Tammy hatte einfach eine Karte gezogen! »Das geht nicht! Leg sofort die Karte wieder hin! Du bist doch gar nicht dran!« Die Wut schoss in mir so schnell und heftig hoch wie die Flammen, wenn man Spiritus ins offene Feuer gießt.
»Na und?« Sie funkelte mich an. Ihr Gesicht hatte sich verändert, als hätte man einen Befehl bei Photoshop eingegeben: Gesicht dämonisieren.
»Ach, unsere kleine, liebe Melody, nimmt immer alles so furchtbar ernst!«
Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam. Da ist eine Lücke in meiner Erinnerung. Doch plötzlich hatte ich einen Dolch in der Hand.
Er gehörte zu den Utensilien aus Henry Paiges Kiste, genauso wie die Kelche und die Scheiben und das Cape, das Claas immer noch trug.
Die Spitze des Dolchs in meiner Hand zeigte auf Tammys Hals.
Schrie sie zuerst oder ich?
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis sich Julians Hand auf meine legte und mir sanft – war es wirklich sanft oder wünschte ich es mir bloß? – den Dolch abnahm. Tammy schaute mich entsetzt an und murmelte vor sich hin, ich sei eine Irre, ich hätte sie umbringen wollen.
Und ich? Ich war erschrocken über mich – und zugleich bedauerte ich, dass ich ihr
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