Wenn Es Dunkel Wird
dich ins Bett, guck einen Film. Und denk erst mal nicht mehr dran, okay?«
Wie sollte ich mir jetzt einfach einen Film reinziehen?
27
Seit jenem Abend, an dem ich diese Gestalt vor dem Schuhgeschäft gesehen habe, verfolgte mich die Vorstellung des Magiers Tag und Nacht. Und immer, wenn ich in mein Zimmer kam, zog es mich zum Fenster und mein Blick wanderte zum Eingang des Schuhgeschäfts. Manchmal stand er wirklich da, mit seiner dunklen Jacke, seiner Kapuze. Abends, wenn es dunkel wurde, schaltete ich das Licht gar nicht erst an, damit er mich nicht sehen konnte.
Du willst jetzt wissen, warum ich nicht einfach da hinuntergegangen bin und ihn angesprochen habe, stimmt’s?
Kannst du so einfach deiner größten Angst gegenübertreten? Würdest du der grausamen, brutalen Wahrheit ins Gesicht sehen wollen, dass du schuld bist am Tod eines Menschen? Am Tod eines Menschen, der dich nun nicht mehr nur in deinen Albträumen verfolgt, sondern der leibhaftig vor deiner Tür steht?
Eines Abends brachte ich den Mut auf, wahrscheinlich aus Verzweiflung darüber, dass mich meine Angst mittlerweile vollkommen durchdrungen hatte. Ich sah Patrick überall, wohin ich auch ging. Ich musste endlich Gewissheit haben.
Der Schuhladen hatte geschlossen und seine Beleuchtung gedimmt.
Es schneite dicke Flocken. Der Schnee blieb liegen und man konnte einzelne Fußstapfen auf dem Bürgersteig erkennen. Ein Pärchen ging vorbei, eng umschlungen, die beiden stapften durch den Schneematsch, blieben an einem der Schaufenster stehen. Er zeigte hinein. Sie zog ihn weiter, mein Blick folgte ihnen und blieb am Eingang haften. Da – die Gestalt im Schatten. Er war schon wieder da – oder immer noch?
Es ist ein ganz normaler Passant, der wahrscheinlich auf seine Verabredung wartet, versuchte ich mich zu beruhigen.
Das Licht der Laternen war nur ein Glimmen hinter dem dichten Vorhang aus Schnee.
Ich nahm meinen Mut zusammen, zog die Daunenjacke und meine Uggs an und stülpte mir eine Wollmütze über. Kalter Wind fuhr mir in den Kragen und klatschte mir einen Schwung eisiger Schneeflocken ins Gesicht. Ich zog die Mütze tiefer in die Stirn.
Meine Knie zitterten, als ich die Straße überquerte. Autos hatten die Schneedecke bereits festgefahren, ich musste aufpassen, nicht auszurutschen.
Meine Hand umklammerte die Dose mit dem Pfefferspray. Ich hab es noch nie benutzt. Geradewegs steuerte ich auf den überdachten Eingang zu, so, als wollte ich dort ins Haus. Nur noch wenige Meter. Vier, drei.
»Ich bin nicht tot!«
Hörte ich das Flüstern tatsächlich oder besetzte mich die Angst inzwischen so sehr, dass ich mir die Stimme nur einbildete? Ein Schatten huschte an mir vorbei und verschwand hinter den Mülltonnen. Ich wollte hinterherlaufen, aber ich war wie festgefroren und mein Körper schlotterte vor Angst. Hinter den Mülltonnen war keiner mehr. Ich gab mir eine Ohrfeige. Es tat weh, ich war wirklich wach.
Langsam ging ich zurück zu unserer Haustür. Durch das große Schaufenster unseres Geschäfts fiel das typische helle, klare Licht, das mir früher immer das Gefühl gegeben hat, sicher und geborgen – und in einer heilen Welt zu Hause zu sein. Meine Eltern bedienten beide noch, es war kurz vor acht.
Tja, ob meine Eltern etwas ahnten? Sie waren zumindest ziemlich besorgt gewesen, als ich aus Frankreich zurückgekommen war. Und ich hatte alle Mühe, ihnen auszureden, dass mir etwas Schlimmes zugestoßen war. Zuerst schob ich alles auf meine Angst vor der ungewissen Zukunft und dem Abi – aber als sie sich damit nicht zufriedenzugeben schienen, erfand ich was mit Claas. Dass ich in ihn verliebt war, er aber nicht in mich. Das glaubten sie dann zum Glück, zumindest fragten sie nicht mehr weiter – und meine Mutter tröstete mich damit, dass ich doch noch viele andere Jungs treffen würde.
Man sagt ja immer, dass Eltern viel mehr vom Leben ihrer Kinder mitbekommen, als ihre Kinder ihnen anvertrauen. Mag sein, dass sie ahnen, dass ich ihnen nicht alles erzählt habe. Aber ich gab mir alle Mühe, ab und zu wieder die unbeschwerte Tochter und gute Schülerin zu sein, die ich mal war.
Einen Moment lang beobachtete ich meine Eltern, wie sie lächelnd die Kunden bedienten, mein Vater sorgfältig den teuren Käse einpackte und meine Mutter mit beinahe liebevollen Bewegungen den San-Daniele-Schinken schnitt.
Da wusste ich, dass ich ihnen nie die Wahrheit sagen könnte.
Ich war jetzt in einer anderen Welt und das helle, klare Licht von
Weitere Kostenlose Bücher