Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn es fesselt, ist es keine Freiheit

Wenn es fesselt, ist es keine Freiheit

Titel: Wenn es fesselt, ist es keine Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Spezzano
Vom Netzwerk:
eigenen Leben anführen.
    Ein Jahr nach der Scheidung meiner Eltern – ich war damals vierundzwanzig – machte ich eine Nahtoderfahrung. Ich hatte einen Unfall beim Footballspielen und erlitt dabei eine schwere Gehirnerschütterung. In der Nacht im Krankenhaus verließ ich meinen Körper und reiste durch den sprichwörtlichen Tunnel. Als ich am Ende des ersten Korridors angelangt war, versagten meine Sinne. Es gab, so weit ich sehen konnte, nichts als einen Abgrund. Doch statt über den Abgrund hinweg zu jenem zweiten Korridor zu fliegen, der ins Licht führte, besann ich mich anders und kehrte um. Es schien leicht zu sterben, als ob man schlafen gehen würde, aber ich entschied mich, nicht aufzugeben. Ich hatte noch nie aufgegeben und beschloss, es auch jetzt nicht zu tun. Ich drehte mich also um und schwebte durch den ersten Korridor zurück. Meine Sinneswahrnehmung kehrte augenblicklich zurück und ich befand mich wieder in meinem schmerzenden Körper auf der Intensivstation des Krankenhauses.
    Als der Leiter eines Workshops fünf Jahre später über Eigenverantwortung sprach und wie wir alles erschaffen, was uns passiert, begriff ich spontan die Bedeutung meines »Unfalls« und warum ich fast gestorben wäre, um meine Familie zu retten. Dahinter stand meine Fantasievorstellung, meine Eltern würden sich bei meinem Begräbnis begegnen, die Vergangenheit ruhen lassen und wieder zusammenkommen.
    Damals verstand ich auch, warum ich beim Verfassen meiner Dissertation eine Schreibblockade gehabt hatte. Immer, wenn ich ungefähr zehn Minuten lang geschrieben hatte, fühlte ich mich physisch, emotional und mental völlig erschöpft. Denn ich begriff intuitiv, dass der kleine Junge in mir seine Eltern mit dieser Doktorarbeit wieder zusammenbringen wollte.
    Zwar kamen meine Eltern aus verschiedenen Teilen des Landes zu meiner Promotionsfeier, aber nicht um sich zu versöhnen. In diesem Workshop erkannte ich dann endlich, dass ich nicht nur eine Dissertation geschrieben hatte, was schon schwierig genug war, sondern mich damit auch bemüht hatte, meine Familie wieder zusammenzubringen. Als mir das klar wurde, lachte ich darüber, wie das naive Kind in mir vorgegangen war. Und wie ich schon sagte: Für das erste Kapitel meiner Promotion hatte ich zwei Jahre gebraucht. Nach dieser intuitiven Erkenntnis, brachte ich die letzten vier Kapitel in weniger als vier Wochen zu Papier.
    Meine neue Bewusstheit über diese Zusammenhänge erstaunte und befreite mich. In wenigen Augenblicken gewann ich neue Einsichten darüber, wie Bewusstsein funktioniert. Ich erkannte, welche zentrale Rolle die Familie in der Psychologie der Persönlichkeit spielt.
    Es folgten zehn weitere Jahre der Beratungspraxis und der Forschung, in denen ich diese Erkenntnisse weiter vertiefte, bis ich endlich das Gefühl hatte, die Grundlagen von Familienmustern wirklich verstanden zu haben. Das war vor mittlerweile einundzwanzig Jahren, und seither hat sich mein Verständnis immer weiter vertieft. Die Familie steht nach wie vor im Zentrum meiner Erkenntnisse über Psychologie und persönliche Muster. Ich habe aber auch festgestellt, dass es nur wenigen gelingt, sich aus der Falle der Familienverschwörungen zu befreien.

Leblosigkeit und Burnout
     
    Dieses Muster wurde in unseren Familien schon begründet, als das Bonding offenbar verloren gegangen war und Rollenspiele zu schmerzlichen Erfahrungen zu führen begannen. Eine natürliche Form der Heilung besteht darin, erlittene Verluste zu beklagen und den Schmerz so lange zu fühlen, bis er vergangen ist. Das zerstreut verborgene Ängste und das Bestreben, unabhängig zu sein, das ja erst zu der schmerzlichen Erfahrung geführt hat. Wir bauen unser Ego sowohl auf dem versteckten Wunsch auf uns abzutrennen als auch auf dem Bedürfnis des Egos nach Konkurrenz und Wettbewerb. Deshalb gibt es ja so viel tief vergrabenen Schmerz rund um unsere Familien und insbesondere in Bezug auf unsere Eltern. Wir haben uns dieses Leid selbst zugefügt, um sie anzugreifen und unabhängig zu werden.
    Die Anzahl der Rollen, die wir spielen, zeigt, wie zornig wir auf unsere Eltern sind. Eine Rolle verkündet: »Das hättest du so machen sollen.« Das trifft besonders auf die Unabhängigkeit zu, die ja ein Abwehrmechanismus gegen Schmerzen ist. Noch viel tiefer darunter vergraben liegt unser Zorn auf Gott für das, was in unseren Familien passiert ist. Wir benutzen unsere Wut, um Selbstbeschuldigungen ebenso zu verbergen wie die

Weitere Kostenlose Bücher