Wenn es Nacht wird in Manhattan
diesen irritierenden sechsten Sinn, der ihr ungehinderte Einblicke in seine verborgensten Gefühle verschaffte. Er mochte es nicht, wenn sie seine Gedanken las. Auf diese Weise erfuhr sie viel zu viel über ihn.
Er musste leise lachen. Offenbar sah er bereits Gespenster. Es war schon spät, und er brauchte ein richtiges Bett und keinen Stuhl, auf dem er die Nacht verbringen musste. Doch als sein Blick über den schlanken Körper unter der Bettdecke wanderte, wusste er, dass er sie nicht allein lassen konnte. Und er wollte lieber nicht darüber nachdenken, warum er so empfand.
Er schlief erst ein, als die Nachtschwester ihren Dienst beendete. Und er wachte nicht eher auf, bis die Krankenschwester von der Tagschicht sanft seine Schulter schüttelte.
“Entschuldigen Sie bitte”, sagte sie, als er die Augen öffnete, “aber es wird Zeit für Miss Danburys Bad.”
“Oh, selbstverständlich.” Er stand auf und reckte sich gähnend. Dann warf er Tippy einen schnellen Blick zu. Heute Morgen sah sie viel schlechter aus. Ihre Prellungen hatten eine dunkelblaue Farbe angenommen, und ihre Schnittwunden schienen zu glühen. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Model, sondern eher mit einer Hauptfigur in einem Horrorfilm. Er hoffte, dass man sie nicht in die Nähe eines Spiegels kommen ließ. “Ich nehme mir ein Hotelzimmer, lege mich eine Stunde aufs Ohr und komme zurück. Einverstanden?”, fragte er mit sanfter Stimme.
Sie zögerte. “Du brauchst nicht zurückzukommen …”
“Wenn ich das nicht tue, holst du dir bestimmt deine Entlassungspapiere und gehst nach Hause”, mutmaßte er.
Sie errötete. “Niemals!”, widersprach sie und fragte sich, wieso er ihre Gedanken erraten konnte.
“Es funktioniert auch bei mir, nicht wahr?”, neckte er sie. Er hatte ihre Reaktion also richtig interpretiert. Sie hatte gespürt, dass auch er ihre Gedanken lesen konnte – zumindest wenn sie so offensichtlich waren. “Lassen Sie sie nur ja nicht gehen”, schärfte er der Krankenschwester ein. “Sobald ich ein Hotel gefunden habe, melde ich mich im Schwesternzimmer und gebe meine Telefonnummer durch, damit Sie mir sofort Bescheid geben können, wenn sie versucht, das Zimmer zu verlassen. Nein, warten Sie, ich gebe Ihnen besser gleich meine Handynummer.”
“Gut, Sir”, sagte die Schwester mit einem verschmitzten Lächeln.
Tippy funkelte ihn an. “Das ist nicht fair. Zu Hause kann ich mich genauso gut erholen wie hier.” Sie ärgerte sich, dass die Medikamente ihr Sprechvermögen beeinträchtigten. Außerdem tat ihr das Reden und Atmen weh.
“Mit deinen Lungen würdest du es nicht einmal bis zum Aufzug schaffen”, meinte er, “ganz zu schweigen von den Folgen der Gehirnerschütterung.”
“Er hat recht”, stimmte ihm die Schwester zu und kicherte, als sie Tippys Blick sah. “Aber keine Bange. Wir fangen heute mit der Atemtherapie an. Wir wollen ja schließlich keine Lungenentzündung bekommen.”
“Ganz bestimmt nicht”, pflichtete Cash ihr bei.
“Das macht euch wohl Spaß”, sagte Tippy vorwurfsvoll. “Ich komme mir vor wie der Gefangene von Zenda.”
“Das war Stewart Granger. Der war zwar viel größer als du, aber genauso streitsüchtig.”
“Ich bin nicht streitsüchtig”, brauste sie auf.
Cash und die Krankenschwester warfen sich vielsagende Blicke zu.
“Hört auf damit”, krächzte Tippy. “Das ist nicht – fair. Zwei gegen einen.”
“Sie kann nichts dafür”, erklärte er der Schwester. “Sie möchte nicht, dass Sie mitbekommen, wie verrückt sie nach mir ist. In Wirklichkeit will sie natürlich mit mir nach Hause gehen.”
“Das stimmt überhaupt nicht”, tobte Tippy.
“Natürlich willst du das, und das darfst du auch, sobald der Doktor sagt, dass du ohne Bedenken entlassen werden kannst”, versprach er.
“Das ist eine Unverschämtheit …!”
Er lachte laut. “Nimm ein schönes Bad und tu, was sie sagen. Wenn du brav bist”, fügte er hinzu, “bringe ich dir vielleicht ein Geschenk mit, wenn ich zurückkomme.”
Sie wollte ihm einen vernichtenden Blick zuwerfen, aber es gelang ihr nicht.
“Ich bin nicht bestechlich”, murrte sie.
“Rory hat mir erzählt, dass du Katzen magst”, fuhr er fort. “Stoffkatzen mit niedlichen Gesichtern.”
“Hier gibt es aber leider keine Stoffkatzen”, antwortete sie schnippisch.
“Glaubst du?” Er schaute die Krankenschwester an, die sofort begeistert nickte, und formte mit den Lippen das Wort
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