Wenn es Nacht wird in Manhattan
kurz und vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
“Du hast sie geliebt.”
Stirnrunzelnd schaute er sie an. “Zumindest habe ich das geglaubt”, sagte er unwillkürlich. “Vielleicht war ich zu stolz, um die Realität zu erkennen. Dass es bei ihr keine Liebe war.”
Sie lächelte schwach und schloss die Augen. Seine große, warme Hand fühlte sich so tröstlich an. Ihre Finger umklammerten sie vertrauensvoll, als die Medizin endlich zu wirken begann, den Schmerz dämpfte und ihre Ängste vertrieb …
Sie schlief. Er betrachtete sie mit flackernden Augen. Seine Gefühle, die er sonst immer so gut unter Kontrolle hatte, drohten ihn zu überwältigen. Er hatte sie sehr nahe an sich herangelassen, viel zu nahe. Aber er vertraute ihr noch nicht genug. Er hatte ihr sehr wehgetan. Er hatte sie aus seinem Leben verbannt und musste zurückkommen, um sie zu retten. Sicherlich verspürte sie ihm gegenüber Dankbarkeit. Aber die jüngsten Ereignisse hatten sie traumatisiert, und deswegen konnte er alles, was sie im Moment sagte oder tat, nicht für bare Münze nehmen.
Nach Auskunft des Doktors würde es vier bis sechs Wochen dauern, ehe sie wieder so weit hergestellt war, dass sie arbeiten konnte. Die Fäden waren kein Problem, sie würden in fünf Tagen gezogen werden. Es würde jedoch länger dauern, bis ihr seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt wäre. Inzwischen würde er sich um sie kümmern, sie beschützen und verwöhnen. Und wenn es ihr wieder richtig gut ging, würden sie versuchen, sich über ihre Beziehung endgültige Klarheit zu verschaffen.
Das jedenfalls sagte ihm sein Verstand. Sein Gefühl dagegen sagte ihm etwas anderes, als er sich an ihren Körper erinnerte, der sich gegen seinen gepresst hatte, ihre gierigen Küsse und die schmerzvolle Lust, die sie ihm in der Dunkelheit verschafft hatte. Noch nie hatte er eine Haut berührt, die so warm und weich war, und noch nie hatte er so sehr eine Frau begehrt. Diese eine Nacht spukte ihm noch immer im Kopf umher. Er würde sie nie vergessen können. Wenn er Tippy verlieren würde …
Er ließ ihre Hand los und setzte sich auf seinem Stuhl zurück. Er machte sich Sorgen, weil ihm dieses Problem nur allzu vertraut war. Er war wieder zur Arbeit gegangen und hatte versucht, sie sich aus dem Kopf zu schlagen. Doch es war ihm nicht gelungen. Seitdem hatte er sich nur noch wie ein halber Mensch gefühlt.
Jetzt war sie verletzt und brauchte ihn. Rory brauchte ihn auch. Noch nie hatte er sich auf solche Weise um jemanden kümmern müssen. Er hatte verwundete Kameraden in der Schlacht versorgt, hatte sich um Kumpel gekümmert, die bei einem verdeckten Vorstoß unter Beschuss geraten waren. Er hatte Zivilisten gerettet, die bei seinen Einsätzen in Gefahr geraten waren. Aber noch nie zuvor war er auf einer so persönlichen Ebene gefordert gewesen – abgesehen von seiner Mutter, als er noch sehr jung war. Er hatte es nicht geschafft, sie vor dem Tod zu retten. Wenigstens hatte er Tippy gerettet.
Sehnsüchtig betrachtete er ihr Gesicht, während sie schlief. Sagte man nicht, dass ein gerettetes Leben dem Retter gehörte? Er stellte sich vor, wie es wäre, sie in seinem Haus zu haben, für sie zu sorgen, sie zu beschützen. Er dachte an Rory, der bei ihm wohnen, ihn als Vorbild nehmen und sich von ihm trösten lassen und Rat holen würde. Rory hatte nur Tippy. Abgesehen von dem Kommandanten in der Kadettenschule hatte es noch keine Vaterfigur in seinem bisherigen Leben gegeben.
Plötzlich fürchtete er sich vor der Verantwortung. Wäre er wirklich in der Lage, sie zu übernehmen? Als Erwachsener hatte er sich noch nie um das Wohlergehen eines anderen Menschen kümmern müssen. Er war keinem anderen gegenüber verantwortlich oder verpflichtet – außer sich selbst. Das würde sich nun ändern. Tippy würde in den nächsten Wochen von ihm abhängig sein. Ebenso Rory, weil seine Schwester nicht in der Lage war, auf ihn aufzupassen.
Das Leben nahm eine andere Gestalt an. Er war sich nicht sicher, ob ihm die Veränderung gefallen würde. Interessant wäre sie auf jeden Fall.
Noch vor ein paar Jahren war sein Leben in einem stetigen Fluss gewesen. Ständig hatte er seine Jobs gewechselt, ohne sich jemals wohlgefühlt zu haben oder glücklich gewesen zu sein. Er war weder mit seinen Kollegen klargekommen noch hatte er etwas gefunden, das ihm ein Gefühl der Sicherheit vermittelt hätte.
Jetzt hatte er einen unbedeutenden Job in einer kleinen Provinzstadt.
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