Wenn es Nacht wird: Psychothriller (German Edition)
zerrissen, welch ein Albtraum es war, Männern im Konferenzraum Spitzensoftwarelösungen zu verkaufen. Wir hatten viel einstecken müssen. Die Typen in unserem Vertriebsteam waren harte Konkurrenten, sehr engagiert und gelegentlich absolut fies. Lucy kam irgendwie durch, weil sie die Tochter des Geschäftsführers war, aber es ärgerte sie, dass sie mit all den Testosteron-gesteuerten Männern zurechtkommen musste. Für mich war der Geschlechterkampf kein so großes Problem, weil ich durch harte Arbeit weiterkam und meistens meine Bonusvorgaben erreichte. Wir hatten uns irgendwie verbündet, weil Lucy jemanden brauchte, mit dem sie ablästern konnte. Doch ansonsten hatten wir nur wenig Gemeinsamkeiten.
»Ben hat mir gesagt, wo du gestern Nacht warst.«
Ich hatte an meinem Wein genippt und sie angesehen. Wir waren am Abend zuvor mit Kunden aus gewesen, doch ich war früher gegangen, statt noch zu bleiben, wie wir das sonst taten, um uns erbärmlich zu betrinken. Ich hatte gesagt, dass ich Kopfschmerzen habe, doch stattdessen war ich in den Barclay Club gegangen.
»Du strippst«, hatte sie gesagt.
»Ich tanze.«
»Du ziehst dich für Geld aus.«
»Für gutes Geld.«
Etwas in ihrem Blick war aufgeflackert; ich hatte es genau gesehen. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mich beinahe vor ihr gerechtfertigt. Sie kannte sich mit Geld und dem Streben danach aus und hatte kurz davor gestanden, mich zu fragen, wie vie l ? Doch dann war der Moment vorbei.
»Das ist Ausbeutung«, hatte sie gesagt. »Du weißt selbst, wie hart wir arbeiten müssen, doppelt so hart wie so mancher, und trotzdem bekommen wir nicht dieselbe Anerkennung.«
»Das hat nichts mit meiner Arbeit im Club zu tun. Ich gehe, weil ich gehen will«, hatte ich zu ihr gesagt. »Und wenn dort irgendjemand ausgenutzt wird, dann ganz bestimmt nicht ich. Da kommen Männer rein, die ihr ganzes Geld dafür ausgeben, um mir dabei zuzusehen, wie ich etwas tue, das mir Spaß macht. Ehrlich gesagt fühlt sich das großartig an.«
Genau in dem Moment waren drei Kerle aus der Vertriebsabteilung zu uns gestoßen, und das Gespräch war wieder um die üblichen Themen gekreist: Wer den größten Wagen, die dicksten Eier und den besten Verkaufsabschluss getätigt hatte. Lucy war nie mehr darauf zurückgekommen, erst gestern Abend auf der Party. Trotz ihrer angeblich feministischen Überzeugungen wurde ich den Eindruck einfach nicht los, dass sie ein wenig eifersüchtig war.
Abgesehen von Lucy und Ben wussten die meisten meiner Freunde nicht, was ich jeden Freitag- und Samstag-, manchmal auch Donnerstag- und Sonntagabend machte. Vor elf Uhr musste ich nicht im Club sein, also führte ich ein ganz normales Leben, und wenn meine Freunde in Clubs oder nach Hause ins Bett gingen, ging ich in den Barclay Club und verdiente ein Vermögen.
Ich hatte mir oft überlegt, es ihnen zu sagen. Falls mich irgendjemand direkt darauf angesprochen hätte, hätte ich nicht gelogen. Doch keinen schien es zu interessieren. Sobald ich sagte, ich ginge noch woandershin, hieß es immer nur, »okay, cool«. Sie verabschiedeten sich und verschwanden in irgendeinem Club oder sonst wo, gingen nach Hause oder auf eine andere Party.
Ich lag wach im Bett. Die Luke über mir, ein schwarzes Viereck, wirkte irgendwie heller als der restliche Raum. Wenn ich die Augen schloss, sah ich die Luke trotzdem – sie sah aus wie eine Graböffnung.
Körperlich war ich erschöpft, doch meine Gedanken rasten wie wild. Malcolm hatte recht: Ich hatte Angst. Tagsüber fiel es mir leichter, so zu tun, als wäre das alles nie passiert. Dann war es leichter zu glauben, dass es gar nicht Caddys Leiche war. Immerhin hatte ich ihr Gesicht nur kurz im Licht meiner Taschenlampe aufblitzen sehen, als das trübe Wasser des Medway darüber hinwegschwappte. Es hätte ohne Weiteres auch jemand anders sein können. Vielleicht eine Leiche, die angeschwemmt worden war, ein Selbstmörder, irgendeine vermisste Person.
Doch nachts war alles anders.
Seit ich hier im Hafen lebte, hatte ich mich noch nie alleine gefühlt. Auch nach Einbruch der Dunkelheit war immer irgendwas von den anderen Booten zu hören, leise Stimmen aus irgendeinem Fernseher, Dianes und Steves schreiende Kinder, der Verkehr auf der nahe gelegenen Auto bahn, das Rattern des Eurostar oder des Javelin, der die Hochgeschwindigkeitsgleise ungefähr eine Meile weit von hier entfernt entlangschoss. Die anderen Hausbootbesitzer waren ebenfalls in Hörweite; auch
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