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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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wollte auf alle Fälle diese bescheuerten Tränen unterdrücken, aber es gelang mir nur, sie meinen Vater nicht sehen zu lassen und dafür eventuell eine Ohrfeige zu kassieren. Als wir über die Brücke gegangen waren, war es vorbei. Ich rotzte in den Ärmel meines Anoraks, wischte mir unauffällig die Tränen aus dem Gesicht und der Druck auf meiner Brust ließ wieder nach.
    Wir gingen wie üblich unter die Duschen, trafen die gleichen Menschen wie jeden Morgen, nur Jörg fehlte. Immer wieder schaute ich zur Tür, die zum Schwimmbad führte. Jede Bewegung registrierte ich, aber Jörg kam nicht.
    »Er ist bestimmt nur erkältet«, sagte ich mir. »Deshalb kann er nicht trainieren.« Ich versuchte mich zu beruhigen, schließlich hatte er schon häufiger mal einen Tag gefehlt. Aber ich ärgerte mich und fühlte mich von ihm verraten. Wieder allein zwischen den ganzen alten Männern, niemand in den ich mich hineinflüchten konnte. Wie konnte er mir das antun? Hoffentlich war ihm nichts passiert. Als ich schon allen Schaum abgespült hatte, klappte die Tür, durch die man zu den Schwimmbecken kam, doch niemand hatte den Duschraum verlassen, niemand betrat ihn. Ein Windzug vielleicht, aber plötzlich stand der Nieselregen neben mir. Nicht blau, keine gelben Punkte, sondern grau. Wo war Jörg? Niemand beachtete die düstere Gestalt aus Nichts, die sich zu mir unter den Strahl stellte, so nah, dass ich hineingreifen konnte. Aber die Farbe änderte sich nicht, wenn ich es tat. Das Grau wurde weder violett noch schwarz. Es legte sich über meine Seele oder über mein Gesicht, trieb mir wieder die Tränen in die Augen, belastete mich mit Liebe und Traurigkeit, mit Sehnsucht und Schmerz, bis das Wasser wieder stoppte und mein Vater mich anherrschte, ich sollte mich endlich abtrocknen. Der graue Niesel löste sich auf und floss dorthin, wohin die gelben Punkte nie verschwanden: in den Abfluss mitten im Raum.
    Der Druck in meiner Brust nahm wieder zu, drückte mir einen weinerlichen Kloß in den Hals. Ich rieb das Handtuch fest über meinen Körper und noch härter über meinen Kopf und meine Augen, bevor ich wieder zum Abfluss starrte. Außer Seifenschaum war nichts mehr zu sehen. Mein Herz klopfte, der Kloß im Hals blieb, aber ich musste nicht weinen. Ich kam vor Aufregung kaum in mein T-Shirt, riss den Ärmel etwas ein. Als müsste ich pinkeln, lief ich unruhig durch das Foyer des Schwimmbads, solange wir auf Mama warteten. Ich wusste gar nicht, was ich tun wollte, schließlich musste ich zur Schule, aber hier in der Badeanstalt hielt ich es nicht aus.
    Endlich gingen wir los, und sowie wir in den Hasenberge einbogen, sah ich die Blaulichter der Polizeiwagen, die auf der Brücke über der Schleuse standen.
    Die möglichen Schläge waren mir egal, ich rannte einfach los, alle Rufe und Drohungen von Papa ignorierend. Ich lief zur Schleuse an den Polizisten und Absperrungen vorbei, die glitschige Böschung hinunter. Und noch bevor ich erkennen konnte, über wen sich der Notarzt beugte, wusste ich, es war Jörg.
    Ich konnte weder schreien noch weinen, ich zitterte nur. Ein Polizist versuchte mich einzufangen, aber ich riss mich los, lief zu dem Körper, der dort auf den nassen Brettern für die Kanus lag, und starrte ihn an. Er war nackt. Blaue Flecken hatte er, Würgemale, aber keinen privaten Regen mehr, keine Farben. Die Haut war blass und aufgequollen wie Gummibären, die man über Nacht in einem Glas Wasser liegen ließ. Sein Fleisch wölbte sich aus Kratzspuren hervor wie der Inhalt einer Bratwurst, wenn die Pelle platzt. Vielleicht müsste ich ihn nur berühren und es würde sich in einem Strudel violetten Lichts das Blau wieder bilden?
    »Das ist nichts für dich.« Einer der Polizisten fasste mir auf die Schulter, versuchte mich wegzudrehen. Mein Vater rief von der Absperrung aus meinen Namen.
    »Kennst du den Jungen?«, fragte der Polizist.
    »Er heißt Jörg. Er hat seine Farben verloren.«
    »Weißt du, wie er mit Nachnamen heißt?«
    »Nein.« Ich spürte weder Wind noch Kälte, ging näher auf Jörg zu. Der Polizist hinderte mich nicht einmal, er folgte mir nur. Erst als ich mich zu Jörg bückte, versuchte er, mich festzuhalten. Doch ich schaffte es, meine Hände auf Jörgs Schultern zu legen. Ich musste sehen, ob wenigstens der violette Strudel erhalten war. Jemand hob mich hoch, so sehr ich auch mit den Beinen strampelte, trug mich die Böschung hinauf und brachte mich zu den Absperrungen.
    »Das hat ein

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