Wenn Frauen zu sehr lieben

gleichzeitig konzentrieren kann (niemand kann das!), wird sie allmählich ruhig und entspannt sich. Als Tom schließlich kurz vor Mitternacht nach Hause kommt, ist sie bereits eingeschlafen. Als er das Schlafzimmer betritt, wacht sie auf. Ihr Ärger und ihre Wut kehren sofort zurück; sie wiederholt daraufhin ihre Affirmation mehrmals still und sagt: «Hallo, Tom. Schön, dass du wieder da bist.» Tom hingegen erwartet eine «Szene», weil es in ähnlichen Situationen immer eine gegeben hat. Er ist über ihre beiläufige Begrüßung einigermaßen verblüfft. «Ich wollte dich ja anrufen, aber …», sagt er, sich selbst verteidigend, und bringt verschiedene Entschuldigungen vor. Mary wartet, bis er ausgeredet hat, und antwortet: «Wenn du möchtest, können wir morgen darüber sprechen. Jetzt bin ich zu müde. Gute Nacht.» Falls Tom wegen der späten Uhrzeit ein schlechtes Gewissen hat, würde ein Streit mit Mary seine Schuldgefühle vermindern. Dann könnte er Mary vor sich selbst als ein zänkisches Weib bezeichnen – und sein Problem, die Verspätung, würde zu ihrem werden, dem Herumnörgeln. Unter diesen Umständen muss er jedoch selbst mit seinen Schuldgefühlen fertigwerden. Sie leidet nicht wegen seines Verhaltens. So sollte es sein.
    Stellen Sie sich das Retter-Verfolger-Opfer-Spiel einmal als Tischtennispartie vor: Wenn der Ball zu Ihnen herüberkommt, schlagen Sie ihn immer wieder zurück. Wenn Sie sich nicht in das Spiel verwickeln lassen wollen, müssen Sie lernen, den Ball direkt an Ihnen vorbeifliegen zu lassen, über den Rand der Platte hinaus. Eine sehr gute Methode, um dies zu üben, ist die Verwendung des Wörtchens Oh. Mary kann beispielsweise auf Toms Entschuldigung mit einem «Oh» antworten – und dann wieder einschlafen. Sie werden spüren, wie gut es Ihnen tut, sich nicht in den Kampf zu begeben, der dem Retter-Verfolger-Opfer-Gesprächsmuster zugrunde liegt. Sich nicht verstricken zu lassen, das innere Gleichgewicht und die eigene Würde nicht zu verlieren, ist eine Erfahrung, die neue Kraft verleiht. Wenn Sie das schaffen, sind Sie in Ihrer Genesung einen weiteren Schritt vorangekommen.
    Warum ist dieser Schritt notwendig?
    Zunächst einmal müssen wir uns klarmachen, dass verbale Auseinandersetzungen beileibe nicht die einzige Bühne für unsere Rollenspiele sind – unsere gesamte Lebensgestaltung wird von diesen Spielen geprägt, und wir alle haben ganz bestimmte Lieblingsrollen.
    Vielleicht spielen Sie besonders gern den Retter. Vielen Frauen, die zu sehr lieben, ist es angenehm – weil vertraut –, sich um einen anderen Menschen kümmern (das heißt sein Leben in die Hand nehmen) zu können. Aufgrund ihrer chaotischen und/oder entbehrungsreichen Lebensgeschichte haben Sie diese Rolle gewählt; denn sie bietet ihnen die Möglichkeit, sich sicher zu fühlen und ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein zu erlangen. Sie spielen den Retter für ihre Freunde, Familienangehörigen und oftmals auch noch im Beruf.
    Vielleicht sind Sie aber auch der Verfolger: die Frau, die darauf aus ist, Fehler zu suchen, aufzuzeigen und schließlich zu korrigieren. Immer wieder muss diese Frau den Kampf mit den finsteren Mächten aufnehmen, von denen sie als Kind besiegt wurde; jetzt, als Erwachsene, hofft sie, diesem Kampf eher gewachsen zu sein. Von Kindheit an ist sie voller Zorn und versucht, sich in der Gegenwart für die Vergangenheit zu rächen. Sie ist zum Kampf entschlossen, rauflustig, diskutierwütig und streitsüchtig. Sie hat das Bedürfnis zu bestrafen. Sie fordert Abbitte und will Vergeltung.
    Und schließlich könnten Sie ja auch das Opfer spielen, den hilflosesten Part in diesem Dreieck. Das Opfer scheint dem Verhalten anderer auf Gedeih und Verderb ausgesetzt zu sein. Vielleicht fühlten Sie sich als Kind anderen hoffnungslos ausgeliefert, und inzwischen verleiht Ihnen diese vertraute Rolle tatsächlich Kraft. Schwach zu sein hat immer auch etwas Tyrannisches. Die Schuldgefühle anderer sind der Gewinn, den das Opfer aus seinen Beziehungen herausholt.
    Ganz gleich, welche dieser Rollen Sie einnehmen und wo auch immer Sie sie spielen, Sie vermeiden damit die Auseinandersetzung mit sich selbst und bleiben Ihren Kindheitsmustern von Angst, Wut und Hilflosigkeit verhaftet. Sie können die in Ihnen ruhenden Fähigkeiten nicht entwickeln und nutzen, Sie können nicht zu einer selbstverantwortlichen Frau heranreifen, wenn Sie nicht all diese einengenden Rollen abstreifen und sich von Ihrer