Wenn Frauen zu sehr lieben
Weg zu gehen. Auch ich lernte, nur ja keinen Ärger zu machen. Ich blieb still und tat so, als würde ich nicht mitkriegen, was meine Eltern sich gegenseitig antaten. Was ich dachte, behielt ich für mich. Ich versuchte, gut in der Schule zu sein. Manchmal kam es mir so vor, als seien die Schulleistungen das Einzige, was meinen Vater an mir interessierte. Zum Beispiel ließ er sich meine Zeugnisse zeigen, manchmal auch Klassenarbeiten, und darüber redeten wir dann ein bisschen. Er hatte großen Respekt vor jeder Art von Leistung. Ich versuchte deshalb um seinetwillen, gut zu sein.»
Ann strich über ihre Stirn und fügte nachdenklich hinzu: «Ich empfand noch ein anderes Gefühl. Trauer. Ich glaube, ich war die ganze Zeit über traurig, aber das habe ich nie jemandem erzählt. Wenn jemand gefragt hätte: ‹Wie fühlst du dich denn eigentlich?›, wäre meine Antwort gewesen: ‹Gut, wirklich gut.› Selbst wenn ich hätte sagen können, dass ich traurig war, so hätte ich doch nie erklären können warum. Es wäre mir ja nicht einmal möglich gewesen, dieses Gefühl zu rechtfertigen. Ich musste doch an nichts leiden. In meinem Leben mangelte es an nichts Wichtigem. Ich meine, wir hatten immer genug zu essen, wir bekamen immer, was wir brauchten.» Ann war noch nicht in der Lage, sich das Ausmaß ihrer familiären Isolation voll und ganz einzugestehen. An Fürsorge und Aufmerksamkeit hatte es ihr gemangelt, weil ihr Vater praktisch unnahbar gewesen war und ihre Mutter sich von Gefühlen der Wut und Frustration ihm gegenüber hatte verzehren lassen. Was Ann und ihre Schwester erleiden mussten, war seelische Not.
Idealerweise kann ein Kind seinen Eltern vermitteln, wer es wirklich ist, wenn es durch deren Liebe und Aufmerksamkeit dazu ermutigt wird. Aber Anns Eltern waren nicht fähig, diese Chance wahrzunehmen; sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig ihren Willen aufzuzwingen. Als Ann älter wurde, bot sie sich und ihre Liebe (unter dem Deckmantel von Sex) anderen Menschen an. Doch diese waren genauso wenig gewillt oder in der Lage, sie anzunehmen: Ann suchte sich nämlich immer die Sorte von Menschen, mit denen sie sich auskannte. Eine andere Wahl wäre ihr nicht «richtig» vorgekommen, hätte nicht zu dem Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit gepasst, an den sie gewöhnt war.
Inzwischen verschärfte sich der Konflikt zwischen ihren Eltern durch das Scheidungsverfahren noch einmal dramatisch. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen brannte Anns Schwester mit einem Musiklehrer durch. Die Eltern konnten in dieser Phase ihres Kampfes nichts anderes mehr registrieren, als dass eine ihrer Töchter den Staat mit einem Mann verlassen hatte, der doppelt so alt war wie sie und zudem noch nicht einmal in der Lage, sich selbst zu ernähren.
Auch Ann suchte nach Liebe, ließ sich ständig von neuen Männern ausführen und ging mit fast jedem von ihnen ins Bett. Im Innersten glaubte sie, dass ihre Mutter für die Probleme zu Hause verantwortlich war, dass ihre Mutter den Vater mit ihren ständigen Nörgeleien und Drohungen vertrieben hatte. Ann schwor sich, nie zu der aggressiven, fordernden Frau zu werden, als die sie ihre Mutter erlebte. Stattdessen würde sie ihren Partner mit Liebe, Verständnis und völliger Hingabe gewinnen. Schon mit dem Footballspieler hatte sie den Versuch gemacht, durch aufopferungsvolle Liebe und Hingabe unwiderstehlich zu wirken, aber ihre Methode hatte nicht funktioniert. Daraus schloss sie jedoch nicht, die falsche Methode oder den falschen Partner gewählt, sondern noch nicht genug gegeben zu haben. Also bemühte sie sich immer weiter, immer mehr, aber keiner der jungen Männer, mit denen sie sich einließ, blieb bei ihr.
Das Herbstsemester begann, und nach kurzer Zeit lernte Ann in einem ihrer Seminare am College einen verheirateten Mann namens Jim kennen. Er war Polizist und wollte sich im Bereich Strafvollzug weiterbilden, um schneller befördert zu werden. Er war dreißig Jahre alt, hatte zwei Kinder und eine schwangere Frau. Eines Nachmittags erzählte er Ann beim Kaffeetrinken, wie jung er bei seiner Heirat gewesen war und wie unglücklich er sich in der Beziehung zu seiner Frau fühlte. Er warnte sie auf eine väterliche Art vor der Falle des häuslichen Lebens, in die sie durch zu frühes Heiraten und die damit verbundenen Pflichten geraten würde. Es schmeichelte Ann, dass er ihr etwas so Privates wie die Enttäuschung über sein Eheleben anvertraute. Er schien
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