Wenn Frauen zu sehr lieben
gutherzig zu sein, in gewisser Hinsicht auch verletzlich, ein bisschen einsam und unverstanden. Jim erzählte ihr, dass ihm dieses Gespräch sehr viel bedeutet habe – dass er eigentlich noch mit keinem Menschen über so etwas habe sprechen können –, und bat sie um ein weiteres Treffen. Ann sagte sofort ja, denn das Gespräch mit ihm war zwar recht einseitig gewesen (er hatte fast pausenlos geredet), aber so offen und vertraulich, wie sie es in ihrer Familie noch nie erlebt hatte. Ihr schien diese Unterhaltung eine Art Kostprobe von dem zu sein, was sie so sehr brauchte: Aufmerksamkeit. Zwei Tage später trafen sie sich wieder, diesmal zu einem Spaziergang durch die Hügel oberhalb des Campusgeländes. Auf diesem Spaziergang küsste er sie zum ersten Mal. Innerhalb einer Woche hatten sie die nötigen Arrangements getroffen, um während der Dienststunden eines anderen Polizisten in dessen Wohnung zusammen zu sein. Sie verbrachten dort drei der fünf Nachmittage, die Ann eigentlich im College hätte sein müssen. Innerhalb kürzester Zeit drehte sich ihr Leben nur noch um die «gestohlenen Stunden» mit Jim. Ann verschloss die Augen vor den Konsequenzen, die diese Beziehung für ihr sonstiges Leben hatte. Sie begann, Seminare zu schwänzen und zum ersten Mal in ihren schulischen Leistungen abzufallen. Sie belog ihre Freunde, wenn diese sie nach ihrem Privatleben fragten, und ließ sie schließlich ganz fallen, um nicht weiterhin lügen zu müssen. Auch ihre anderen sozialen Aktivitäten verringerten sich, weil es ihr nur noch darum ging, mit Jim zusammen zu sein, wenn es möglich war, und an ihn zu denken, wenn es nicht möglich war. Sie bemühte sich, ständig erreichbar zu sein, nur für den Fall, dass er dann und wann einmal eine Stunde Zeit erübrigen konnte.
Jim gab ihr dafür bei jedem Zusammensein sehr viel Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Er schaffte es, genau das zu sagen, was sie hören wollte – wie wunderbar, wie einzigartig, wie liebenswert sie war und dass sie ihn glücklicher machte, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Seine Worte bewirkten, dass sie sich noch mehr Mühe gab, ihm Freude und sexuelle Befriedigung zu bereiten. Zunächst kaufte sie besonders schöne Unterwäsche, die sie nur für ihn trug, dann Parfum und Öle, vor deren Benutzung er sie jedoch warnte. Er hatte Angst, seiner Frau könne der Geruch auffallen, und wollte sich nicht der Gefahr eines häuslichen Verhörs aussetzen. Daraufhin las sie Bücher über die Kunst der körperlichen Liebe und probierte alles, was sie dabei lernte, an ihm aus. Wenn er in Ekstase geriet, spornte sie dies nur noch mehr an. Nichts erregte sie so sehr wie ihre Anziehungskraft auf ihn und ihre Fähigkeit, ihn damit zu erregen. Es war nicht ihre eigene Sexualität, die sie zum Ausdruck brachte. Ann fand ihre Selbstbestätigung vielmehr in der Anziehungskraft, die sie auf Jim ausübte: Je heftiger er auf sie reagierte, desto wohler fühlte sie sich. Dabei hatte sie besseren Zugang zu seiner Sexualität als zu ihrer eigenen.
Die Zeiten, in denen er sich aus seinem gewöhnlichen Leben wegstahl, nur um bei ihr zu sein, waren ihr immer wieder der ersehnte Beweis für ihren eigenen Wert. Wenn sie nicht mit ihm zusammen war, dachte sie darüber nach, auf welche neue Weise sie ihn becircen könnte. Ihre Freunde hatten es aufgegeben, sie zu gemeinsamen Aktivitäten einzuladen, und ihr Leben konzentrierte sich auf einen Zweck: Jim glücklicher zu machen, als er je gewesen war. Bei jeder ihrer Begegnungen verspürte Ann eine Art Triumphgefühl: Es war der Triumph über seine Ernüchterung dem Leben gegenüber, der Triumph über seine Unfähigkeit, Liebe und sexuelle Erfüllung zu erfahren. Dass sie ihn glücklich machen konnte, machte sie glücklich. Endlich vermochte ihre Liebe das Leben eines anderen Menschen zu verzaubern. Genau das hatte sie schon immer gewollt. Sie war eben nicht wie ihre Mutter, die durch ständige Forderungen den Mann aus ihrem Leben vertrieben hatte. Ann knüpfte vielmehr ein Band, das nur aus Liebe und Selbstlosigkeit bestand. Sie war stolz darauf, wie wenig sie von Jim verlangte.
«Ich fühlte mich sehr einsam, wenn wir nicht zusammen waren, das heißt also: meistens. Wir sahen uns ja nur an drei Tagen in der Woche, jeweils zwei Stunden, und dazwischen meldete er sich nie bei mir. Er hatte montags, mittwochs und freitags Seminare, und danach trafen wir uns regelmäßig. Das bisschen Zeit zusammen verbrachten wir fast
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