Wenn Frauen zu sehr lieben
einem hilflosen «du weißt doch, dass wir beide, deine Mutter und ich, dich sehr lieb haben. Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst». Gehorsam gab Ann das Versprechen, rang sich ein Lächeln ab und fühlte sich noch viel einsamer, weil sie ihren Vater wegen etwas so Wichtigem belügen musste. Anschließend kam ihre Mutter, die im Krankenzimmer auf- und abmarschierte und bohrende Fragen stellte: «Wie konntest du dir das nur antun? Wie konntest du uns das nur antun? Warum hast du mir bloß nicht gesagt, dass etwas nicht in Ordnung war? Was ist denn überhaupt los? Hat es was mit deinem Vater und mir zu tun?» Dann ließ sich ihre Mutter in einem Besuchersessel nieder und berichtete in allen Details über den neuesten Stand des Scheidungsverfahrens, was offenbar dazu dienen sollte, Ann zu beruhigen. Nach diesen Besuchen wurde ihr nachts jedes Mal schlecht, und sie musste sich übergeben.
Am letzten Abend ihres Klinikaufenthaltes setzte sich eine Krankenschwester zu ihr ans Bett und begann, sie vorsichtig, aber eindringlich zu befragen. Daraufhin sprudelte Ann die ganze Geschichte heraus. Schließlich sagte die Krankenschwester zu ihr: «Ich weiß, dass Sie daran denken, es wieder zu versuchen. Wer könnte Ihnen das verdenken? Ihre Situation hat sich seit der letzten Woche kein bisschen verändert. Aber bevor Sie es tun, sollten Sie vielleicht noch mit jemandem reden.» Die Krankenschwester, eine frühere Klientin von mir, verwies Ann an mich.
So begannen Ann und ich daran zu arbeiten, sie von dem Bedürfnis zu heilen, mehr Liebe zu geben, als sie bekam, immer mehr zu geben, obwohl sie sich schon längst verausgabt hatte. In den darauf folgenden zwei Jahren lernte Ann einige Männer kennen, die ihr Gelegenheit gaben zu verstehen, wofür sie Sex in ihren Beziehungen benutzte. Einer von ihnen war Professor an der Universität, an der sie sich mittlerweile eingeschrieben hatte. Er war genauso arbeitssüchtig wie ihr Vater. Zunächst konzentrierte Ann ihre Energien darauf, seine Aufmerksamkeit von der Arbeit abzulenken, damit er sich stattdessen ihrer Beziehung zuwenden konnte. Aber diesmal bekam sie schmerzlich zu spüren, wie sinnlos der Versuch war, ihn zu ändern – und gab nach fünf Monaten auf. Wieder hatte sie die Herausforderung gereizt, wieder hatte ihr jeder Abend, an dem sie ihn der Wissenschaft entreißen konnte, Selbstbestätigung gegeben. Aber Ann fühlte, dass sie emotional immer abhängiger von ihm wurde, während er ihr immer weniger gab. In einer Sitzung erzählte sie: «Gestern Abend war ich mit David zusammen, und als ich darüber sprach, wie viel er mir bedeutet, musste ich weinen. Er begann wieder einmal mit seiner Standardantwort: Er hätte große Verantwortung seiner Arbeit gegenüber, und das müsste ich einfach verstehen – da habe ich zum ersten Mal abgeschaltet. Diese Antwort hatte ich schon so oft gehört. Plötzlich wurde mir erschreckend klar, dass ich ein paar Jahre früher genau dieselbe Szene erlebt hatte – damals allerdings mit meinem Footballspieler. Wieder einmal war ich dabei, mich einem Mann an den Hals zu werfen.»
Sie lächelte wehmütig. «Sie haben keine Ahnung, was ich schon alles gemacht habe, nur um von einem Mann beachtet zu werden. Ich habe mir buchstäblich die Kleider vom Leib gerissen, ihm Zärtlichkeiten ins Ohr gehaucht und jeden Trick angewandt, um ihn zu verführen. Ich versuche offenbar immer noch, einen Mann für mich einzunehmen, der eigentlich kein Interesse an mir hat. Ich glaube, wirklich aufregend am Sex mit David ist für mich das Gefühl, ihn so sehr erregen zu können, dass er sich mit mir beschäftigen muss statt mit den Dingen, die ihm eigentlich wichtiger sind. Ich gebe es nicht gern zu, aber der größte Reiz bestand für mich wohl darin, David oder Jim oder sonst wen dazu zu bringen, mir Beachtung zu schenken. Weil es mir in jeder Beziehung eigentlich schlecht ging, hat Sex wohl immer eine Art Entlastungsfunktion gehabt. Beim Sex scheinen sich für ganz kurze Zeit alle Schranken aufzuheben, und ich kann meinen Partner ganz nah erleben. Diese Nähe habe ich mir immer so sehr gewünscht. Aber ich bin wirklich nicht bereit, mich David weiterhin an den Hals zu werfen. Es kommt mir so erniedrigend vor.»
Doch David sollte nicht der letzte Mann in Anns Leben sein, um den sie sich vergeblich bemühte. Bei ihrem nächsten Verehrer handelte es sich um einen jungen Börsenmakler, der begeisterter Triathlon-Kämpfer war. Auch Ann
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