Wenn Frauen zu sehr lieben
deshalb immer wieder die Erinnerung an das wachruft, was Carolyn am liebsten verleugnen würde. Peinliche Ereignisse wie der elterliche Streit während des Besuchs ihrer Freundin werden von Carolyn als so schmerzhaft erlebt, dass sie sich wohler fühlt, wenn sie die Wahrheit verleugnen kann. Immer beharrlicher wird sie all die Menschen und Dinge meiden, die eine Bedrohung für ihren Schutzwall gegen Schmerz und Kummer darstellen. Sie will ihre Scham, Angst, Wut, Hilflosigkeit, Panik, Verzweiflung, ihr Mitgefühl und ihren Ekel nicht fühlen müssen. Wenn sie irgendetwas zulassen würde, dann wären es genau diese starken, widerstreitenden Gefühle. Sie zieht es deshalb vor,
überhaupt nicht zu fühlen
. In dieser selbstauferlegten Empfindungslosigkeit liegt der Grund für ihr Bedürfnis, die Menschen und Ereignisse in ihrem Leben zu kontrollieren. Durch Kontrolle all dessen, was um sie herum vorgeht, versucht sie, für sich selbst eine Art Sicherheit zu schaffen: keine Schocks, keine Überraschungen,
keine Gefühle
.
Wohl jeder Mensch, der sich in einer unangenehmen Situation befindet, wird versuchen, so weit wie möglich Kontrolle darüber zu erlangen. Bei Mitgliedern einer dysfunktionalen Familie ist dieses natürliche Kontrollbedürfnis übermäßig stark ausgeprägt, weil es so viele leidvolle Erfahrungen gibt. In Lisas Fall beispielsweise wurde von den Eltern großer Druck auf sie ausgeübt, ihre schulischen Leistungen zu verbessern. Die Hoffnung auf bessere Zeugnisse war einigermaßen realistisch, während für eine Änderung des Trinkverhaltens ihrer Mutter nur geringe Chancen bestanden. Statt die verheerenden Auswirkungen ihrer Ohnmacht in Bezug auf den Alkoholismus der Mutter zu erkennen, entschloss sich die Familie zu glauben, eine Verbesserung von Lisas schulischen Leistungen würde das familiäre Klima positiv beeinflussen.
Auch Lisa versuchte unentwegt, die Situation zu verbessern (zu kontrollieren), indem sie ein «braves Mädchen» war. Aber mit ihrem guten Benehmen drückte sie keineswegs Freude an der Familie und am Leben allgemein aus. Im Gegenteil: Jede häusliche Arbeit, die sie unaufgefordert verrichtete, stellte den verzweifelten Versuch dar, die unerträglichen Zustände in der Familie, für die sie sich verantwortlich fühlte, zu korrigieren.
Kinder nehmen zwangsläufig Verantwortung und Schuld für die ernsten Probleme in ihrer Familie auf sich. Ihre kindlichen Allmachtsphantasien lassen sie glauben, sowohl die Ursache für familiäre Spannungen zu sein, als auch die Macht zu haben, diese Spannungen zu verstärken oder aufzulösen. Vielen Kindern geht es wie Lisa: Ihnen wird von den Eltern oder anderen Angehörigen die Schuld für Probleme zugeschrieben, über die diese Kinder keinerlei Kontrolle haben. Doch selbst ohne verbale Schuldzuschreibung durch andere übernimmt das Kind einen großen Teil der Verantwortung für seine eigenen Schwierigkeiten oder die der Familie.
Selbstloses Verhalten, «Bravsein» und Hilfsbereitschaft sind also keineswegs immer altruistisch motiviert – genauso gut können sie den Versuch darstellen, Kontrolle auszuüben. Das Schild an einer Bürotür der Organisation, für die ich früher arbeitete, brachte dies genau auf den Punkt: Es zeigte einen zweifarbigen Kreis, unten schwarz, oben strahlend gelb mit einer aufgehenden Sonne. Darauf stand: «Hilfe ist die Sonnenseite der Kontrolle». Dieses Schild erinnerte uns Berater, aber auch unsere Klienten daran, die Motive zu überprüfen, die hinter unserem Bedürfnis stecken, andere zu ändern und zu kontrollieren.
Wer eine unglückliche Kindheit hatte und gegenwärtig in einer sehr schwierigen, nervenaufreibenden Beziehung lebt, in der er eine besonders große Hilfsbereitschaft an den Tag legt, bei dem lässt sich ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle vermuten. Wenn wir für einen anderen tun, was er selbst tun kann, wenn wir die Zukunft oder den Tagesablauf eines anderen planen, wenn wir einen anderen Menschen, der kein kleines Kind mehr ist, antreiben, beraten, ermahnen, warnen oder ihm gut zureden, wenn wir nicht ertragen können, dass er sich den Konsequenzen seiner Handlungen stellt, und deshalb versuchen, entweder etwas an seinen Handlungen zu ändern oder deren Konsequenzen zu verhindern – dann üben wir Kontrolle aus. Wenn wir ihn kontrollieren können, so hoffen wir, dann haben wir auch unsere eigenen Gefühle unter Kontrolle, zumindest in Bezug auf ihn und sein Leben. Je mehr wir allerdings
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