Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
hatte bestimmt, dass Naomi auch nach Tokio gehen sollte, aber sie wartete in Kalkutta noch immer auf ihr Visum. Im Mutterhaus machte der Scherz die Runde, dass die Schwestern sich möglichst nicht ins Blickfeld von Mutter begeben sollten, wenn sie vermeiden wollten, in irgendein Haus geschickt zu werden, das Mutter gerade durch den Kopf ging. Offensichtlich wäre Naomi beinahe noch in diverse andere Länder geschickt worden, ehe sie Japan erreichte.
Ich war zu Schwester Gabrielles Assistentin ernannt worden und während ihrer Abwesenheit für die Novizinnen und Postulantinnen verantwortlich. Da ich seit meiner ersten Profess in Ausbildungshäusern eingesetzt worden war, hatte ich sowohl in Melbourne als auch in Manila schon Erfahrungen gesammelt. Es war nicht ungewöhnlich,
dass Schwestern nach ihrer Tertianerzeit in ihre früheren Häuser zurückkehrten, aber warum ich zurückgeschickt worden war, wusste ich nicht - vielleicht hatte Schwester Gabrielle um meine Rückkehr gebeten. Über die Gründe für eine Berufung sprach man nicht. Im Tahanan sollte ich den halben Tag über mit den Novizinnen im zweiten Jahr arbeiten und dann am Nachmittag die Novizinnen und Postulantinnen unterrichten. An den Wochenenden besuchte ich das Müllviertel Magdaragat und arbeitete zusammen mit den Novizinnen, wenn die Professen ihren freien Tag hatten.
Ein paar Monate lang arbeitete eine deutsche Medizinstudentin namens Matilda bei uns, die im Besucherhäuschen wohnte und dabei half, die Kinder zu versorgen. An einem Nachmittag, an dem die Professen ihren freien Tag hatten, kam ein fast vertrocknetes Kind zu uns, und Matilda legte einen Tropf und eine Magensonde an und versorgte es mit Flüssigkeit und Antibiotika. Ich wachte bei einem Jungen, der nur mit Mühe Luft bekam und dessen eingesunkene Augen nach hinten rollten, sodass man nur das Weiße sah. Ich dachte, er würde sterben. Matilda und seine Eltern blieben bei ihm, da ich meinen Verpflichtungen zum Gebet nachkommen und zum Abendessen musste. Danach schlich ich mich von der Pause weg, um nachzusehen, wie es ihm ging. Matilda meinte, es gehe ihm ein wenig besser, aber er fieberte und keuchte noch immer. Die Haut über seinen zarten Rippen wurde bei jedem Atemzug nach innen gezogen. Seine Familie war nach Hause gegangen. Es war Nacht, und ich trat hinaus aufs dunkle Gelände, die einzige Möglichkeit, allein zu sein. Der Chor der
benachbarten Schule probte Händels »Halleluja«. Die Musik war zauberhaft. »Warum?«, rief ich hinaus in die Dunkelheit. Als ich wieder hineinging, hatte der Zustand des Jungen sich gebessert. Ich glaubte, Gott hatte mithilfe von Matilda ein Wunder bewirkt und ihn von der Schwelle des Todes zurückgeholt.
Als das Weihnachtsfest mit seiner üblichen Hektik kam, hielten wir unsere Weihnachtsfeier auf dem Gelände in Tondo ab, und diesmal spielten die Kinder piñata, ein Spiel, bei dem ein Tontopf voller Süßigkeiten und kleiner Preise an einem Seil hing, das an einer Stange befestigt war. Dem Anführer jedes Kinderteams wurden die Augen verbunden, und er musste versuchen, den Topf zu treffen und zu zerschlagen, damit die Süßigkeiten und Spielsachen auf sein Team herabregneten.
Doch während dieses fröhlichen Fests starb eine Frau, die kürzlich mit fortgeschrittener TB zu uns gekommen war. Ihr Mann war bereits verstorben, und so mussten wir ihre beiden Jungs vom Fest wegholen, um ihnen die Nachricht zu überbringen, dass nun auch ihre Mutter tot war. Wir begleiteten sie auf die Veranda des Tahanan vor der Frauenstation, wo deren lebloser Körper lag. Der älteste Sohn brach zusammen und riss weinend und schreiend am Drahtgitter vor dem Fenster. Der jüngere verstand es noch nicht. Im Hintergrund hörte man inmitten des Schluchzens der ihrer Eltern beraubten Kinder Weihnachtslieder.
Ich hatte sehr oft direkten Kontakt mit dem Tod, konnte mich jedoch nie an seine Endgültigkeit oder seine Auswirkungen auf die Lebenden gewöhnen. Eines Nachts starb ein junger Mann namens Francisco, seine Augen zu einem
entsetzten Starren geweitet. Seine schwangere Frau brach über ihm zusammen und schluchzte, weil er niemals ihr ungeborenes Kind sehen würde. Als ich am nächsten Tag seine Schuhe neben seinem Bett sah, kam es mir so unwirklich vor, dass er für immer gegangen war und nie mehr seine Sandalen tragen würde. Ich sah kleine Kinder sterben und fühlte mich dem in keiner Weise gewachsen. Die Augen einiger Jungen waren so groß und unschuldig, und doch
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