Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
er will. Bei unserem Gelübde der Demut, des Dienens, der brennenden Liebe - des vierten Gelübdes - wird unser linker Fuß aufgenagelt und muss dem rechten immer in Demut folgen.«
Mutter ließ keinen Zweifel aufkommen: Das vierte Gelübde des Dienstes an den Armen war Gegenstand des Gehorsams, der linke Fuß hatte dem rechten zu folgen. Dienen wurde durch Gehorsam geleistet. Ich war jung, ich wollte leben und nicht ans Kreuz genagelt werden, aber ich dachte immer noch, es sei Gottes Wille, meine Gelübde abzulegen.
Vierunddreißig von uns sollten am 24. Mai 1981 in der Kirche des heiligen Thomas, des zweifelnden Apostels, unsere endgültigen Gelübde ablegen, am Vorabend würden einundachtzig Schwestern ihre ersten Gelübde ablegen.
Mama hatte sich entschlossen, nach Kalkutta zu kommen, um dabei zu sein, wenn ich meine Gelübde ablegte, was für sie eine gewaltige finanzielle Anstrengung bedeutete. Verschlimmert wurde die Lage noch, als ein Taxifahrer sie in Bombay ausraubte und in einiger Entfernung des Flughafens irgendwo im Dunkeln stehen ließ. Als sie eintraf, befand ich mich in Klausur und konnte sie nicht am Flughafen von Kalkutta abholen, also wurde sie in das dem Flughafen nächstgelegene unserer Häuser gebracht. Dort wurde sie von einigen der dort ständig lebenden Mitarbeiter unfreundlich behandelt. Daraufhin besorgte ich ihr eine Unterkunft im YWCA, wo einige der Mitarbeiter und Freiwilligen wohnten und wo ich mit ihr am Tag vor meinen endgültigen Gelübden ein wenig Zeit verbringen konnte. Sie war zwar glücklich, mich zu sehen, stand aber unter Schock wegen ihrer Erlebnisse und hatte bereits ein negatives Bild von Indien und Kalkutta. Ich war jedoch erleichtert, dass sie den Raubüberfall körperlich unversehrt überstanden hatte.
Die Eltern von Schwester Naomi verpassten deren Profess ganz, weil Mutter in letzter Minute das Datum der Profess um zehn Tage vorverlegte. Sie hatten ihre Reise im Voraus gebucht, und so trafen sie sich dann zwar mit Naomi in Kalkutta, waren aber bei der Zeremonie nicht dabei. Plötzliche Veränderungen in der Planung waren üblich bei den MNs und wurden nicht als schlechte Planung, sondern als Manifestationen des göttlichen Willens angesehen, egal wie viele Unannehmlichkeiten oder Mühen sie anderen bereiteten.
Zeitig am Morgen, als es noch dunkel war, gingen wir
paarweise zur Church of Saint Thomas und stiegen unter Rosenkranzgebeten über die noch schlafenden Gehwegbewohner. Die Messe zur Profess begann um sechs, und Mama und die anderen Besucher wurden rechtzeitig zur Zeremonie vom YWCA abgeholt. Tags zuvor hatten wir alle unsere Gelübde gemäß der vorgeschriebenen Formel aufgeschrieben. Am Kopf der Seite zeichneten wir ein Kreuz mit den Worten »Mich dürstet« darunter. Kurz vor der Opferung bildeten wir einen Halbkreis um den Altar vor einem großen Kreuz. Mutter stand mit uns vor dem Altar, als der Priester jede von uns namentlich aufrief. Als ich an die Reihe kam, verneigte ich mich, trat vor und sagte: »Herr, du hast mich gerufen.« Nachdem alle aufgerufen worden waren, trugen wir gemeinsam unsere Gelübde vor und traten dann zu zweit an den Altar, um dort unser Gelübdeblatt zu unterschreiben. Das unterschriebene Blatt reichten wir daraufhin Mutter. Anschließend kehrten wir zum Feiern ins Mutterhaus zurück. Der Waschplatz war mit handgemachten Papierschlangen aus geschreddertem, auf Bindfaden gezogenem Papier geschmückt, zwischen die man Kreise aus gelbem Karton eingefügt hatte, auf denen das Kreuz im Strahlenkranz aufgezeichnet war. Mutter und viele Professen und Novizinnen versammelten sich, um uns zu begrüßen. Sie sangen, klatschten und legten uns Girlanden um den Hals. Dann bekamen wir ein besonderes Frühstück, um uns allen die Wichtigkeit dieses Tags vor Augen zu führen.
Mama blieb noch ein paar Tage, und einige der Schwestern begleiteten uns auf einem Ausfug nach Bandel, einer Kirche mit Muttergottesschrein bei Hooghly, etwa eine
Zugstunde von Kalkutta entfernt. Da es dort grüner und weniger verschmutzt war als in Kalkutta, genoss ich den Ausfug, aber Mama fühlte sich unbehaglich angesichts zweier Frauen, die von Lepra entstellt waren und die im Zug bettelten. In der Park Street kleideten die Schwestern Mama in einen roten, bestickten Sari, den wir auf dem Markt gekauft hatten, und sagten ihr, sie sehe wie Mrs. Gandhi aus. Doch diese wenigen erfreulichen Erfahrungen vermochten Mutters Einstellung zu Indien nicht zu verändern. Bei
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