Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn Ich Bleibe

Titel: Wenn Ich Bleibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gayle Forman
Vom Netzwerk:
sie. Kim redet ganz normal mit mir, so, wie sie es immer tut. Außer der Sanitäterin, die mir erklärte, ich solle durchhalten, und der Schwester, die mich ständig fragt, wie es mir geht, hat noch niemand
seit dem Unfall mit mir geredet. Sie reden nur über mich.
    Ich habe Kim noch niemals beten gesehen. Natürlich betete sie an ihrer Bar-Mizwa, und am Sabbat spricht sie beim Abendessen den Segen, aber das tut sie, weil sie es muss. Meistens nimmt sie ihre Religion auf die leichte Schulter. Aber nachdem sie eine Weile mit mir gesprochen hat, schließt sie die Augen und bewegt die Lippen. Sie murmelt Worte in einer Sprache, die ich nicht verstehe.
    Dann öffnet sie die Augen wieder und wischt sich über die Hände, als ob sie sagen wollte: Das reicht. Aber sie überlegt es sich anders und fügt eine letzte Bitte hinzu: »Bitte, stirb nicht. Ich kann verstehen, warum du sterben willst, aber überleg doch mal: Wenn du stirbst, dann wird in der Schule bestimmt irgend so ein kitschiger Gedenkgottesdienst abgehalten, wie damals, als Lady Di starb. Alle werden Blumen und Kerzen und Zettel vor deinem Spind niederlegen.« Sie wischt sich mit dem Handrücken eine verräterische Träne ab. »Ich weiß, dass du solche Szenen hasst.«
     
    Wir sind uns wahrscheinlich zu ähnlich. Sobald Kim in der Schule auftauchte, nahmen alle an, dass wir dicke Freundinnen werden würden, nur weil wir beide dunkelhaarig, ruhig, fleißig und – zumindest dem Anschein nach – ernsthaft sind. Das Problem war, dass keine von uns beiden eine exzellente Schülerin war (ein guter
Zweier-Durchschnitt), und allzu ernsthaft waren wir auch nicht. In einigen Dingen zwar schon, wie ich in Bezug auf die Musik und sie in Sachen Fotografie, aber in der beschränkten, vereinfachten Welt unserer Schule reichte das allein schon aus, um uns beide in einen Topf zu werfen.
    Daher steckte man uns umgehend in allen mög – lichen Situationen zusammen. An Kims drittem Tag in der Schule meldete sie sich als Einzige freiwillig für den Posten eines Mannschaftskapitäns im Sportunterricht. Wir sollten zwei Fußballmannschaften bilden, und ich fand ihr Verhalten unglaublich arrogant. Während sie das rote Trikot anzog, ließ der Trainer den Blick über die Klasse schweifen, um einen Kapitän für die gegnerische Mannschaft auszuwählen. Sein Blick blieb an mir hängen, obwohl ich eines der am wenigsten sportlichen Mädchen war. Während ich zur Bank schlurfte, um mein Trikot überzuziehen, streifte ich Kims Schulter und murmelte: »Herzlichen Dank auch.«
    In der folgenden Woche bildete unsere Englischlehrerin im Unterricht Zweiergruppen für eine Diskussion über Wer die Nachtigall stört . Später sollten wir unsere Ergebnisse der Klasse vorstellen. Kim und ich waren ein Team. Wir saßen einander zehn Minuten lang in eisigem Schweigen gegenüber, bis ich irgendwann sagte: »Sollten wir nicht über den Rassismus in den Südstaaten reden oder irgendetwas Ähnliches?«
    Kim verdrehte leicht die Augen, weshalb ich ihr am
liebsten ein Wörterbuch an den Kopf geworfen hätte. Ich war erschrocken darüber, wie sehr ich sie verabscheute. »Ich habe dieses Buch in meiner alten Schule gelesen«, sagte sie. »Die Sache mit dem Rassismus ist ja wohl offensichtlich. Ich glaube, die interessantere Frage ist die nach Gut und Böse. Sind die Menschen von Natur aus gut und werden nur durch solche Sachen wie Rassismus schlecht, oder sind die Menschen von Natur aus schlecht und müssen sich Mühe geben, gut zu werden?«
    »Völlig egal«, sagte ich. »Es ist ein blödes Buch.« Ich hatte keine Ahnung, warum ich das sagte, denn ich liebte das Buch und hatte mit meinem Vater darüber geredet; er benutzte es ebenfalls in seinem Unterricht. Ich hasste Kim umso mehr, weil sie mich dazu brachte, ein Buch zu verleugnen, das ich mochte.
    »Schön. Dann halten wir uns an deinen Vorschlag«, sagte Kim, und nachdem wir auf unseren Vortrag eine 2 – bekommen hatten, schien sie vor Schadenfreude über die mittelmäßige Note zu glühen.
    Danach redeten wir einfach nicht mehr miteinander. Das hinderte die Lehrer aber nicht daran, uns bei jeder Gelegenheit zusammenarbeiten zu lassen, und es hielt auch die Schüler nicht davon ab, uns für Freundinnen zu halten. Je öfter das passierte, desto stärker wurde unsere Abneigung dagegen – und gegeneinander. Je enger die Welt uns aneinanderpresste, desto stärker drückten wir dagegen – und gegeneinander. Jede von uns tat so,
als ob die andere nicht

Weitere Kostenlose Bücher