Wenn Ich Bleibe
als sie mich treten wollte.
Es gab keinen offiziellen Friedensvertrag, keine langwierige Entspannungspolitik. Nachdem die Lehrer uns auseinandergebracht hatten, schauten Kim und ich einander an und fingen an zu lachen. Und nachdem wir uns mit zerknirschten Beteuerungen, uns bessern zu wollen, aus dem Büro des Schulleiters gemogelt hatten, humpelten wir nach Hause. Kim erzählte mir, dass sie sich beim Fußballspielen nur deshalb als Mannschaftskapitän gemeldet hatte, weil die Trainer sich meistens daran erinnerten und einen den Rest des Schuljahres in Frieden ließen. Es war ein raffinierter Schachzug, den ich von da an selbst praktizierte. Ich erklärte ihr, dass ich in Bezug auf Wer die Nachtigall stört ihre Meinung teilte und dass es eines meiner Lieblingsbücher war. Und das war’s. Von da an waren wir Freundinnen, genauso, wie alle es erwartet hatten. Wir haben nie wieder die Hand gegeneinander erhoben, obwohl wir uns etliche verbale Gefechte lieferten. Aber auch die endeten meistens so wie unsere erste und einzige Prügelei: Wir bogen uns vor Lachen.
Nach unserem Kampf allerdings verbot Mrs Schein Kim den Umgang mit mir. Sie war überzeugt, dass ihre Tochter irgendwann auf Krücken nach Hause kommen würde. Meine Mutter bot an, mit Kims Mutter zu reden
und die Sache zu klären, aber sowohl mein Vater als auch ich erkannten, dass sie mit ihrem Temperament die diplomatische Mission wahrscheinlich völlig vermasseln würde, was vermutlich zur Folge gehabt hätte, dass Kim auf Lebenszeit aus meinem Umfeld verbannt worden wäre. Schließlich beschlossen wir, Kim und ihre Eltern zum Abendessen einzuladen. Mein Vater machte Brathähnchen. Und wenn man auch merkte, dass Mrs Schein von unserer Familie nach wie vor etwas unangenehm berührt war – »Sie arbeiten also in einem Plattenladen, während Sie Ihre Lehrerausbildung machen? Und Sie sind der Koch der Familie? Wie ungewöhnlich«, sagte sie zu meinem Vater -, so erklärte Mr Schein meine Eltern doch für anständig und meinte, er könne in unserer Familie keinen Hang zur Gewalt entdecken. Dann wies er seine Frau an, Kim zu erlauben, mich nach Belieben zu besuchen.
Den Rest des Schuljahrs waren Kim und ich den Ruf, brave Mädchen zu sein, los. Unser Faustkampf war das Gesprächsthema Nummer eins, und mit der Zeit wurden die Einzelheiten immer blutiger – über gebrochene Rippen, herausgerissene Fingernägel und Bisswunden wurde berichtet. Aber als wir nach den Weihnachtsferien wieder in die Schule kamen, war alles vergessen. Wir waren wieder die beiden dunklen, stillen, braven Zwillinge.
Aber es machte uns nichts mehr aus. Tatsache ist, dass uns diese Reputation über die Jahre sehr dienlich
war. Wenn wir zum Beispiel beide am selben Tag fehlten, vermuteten die Leute, wir hätten uns gegenseitig angesteckt, und nicht, dass wir gemeinsam die Schule schwänzten, um uns im filmwissenschaftlichen Institut der Universität Independent-Filme anzuschauen. Als jemand auf die verrückte Idee kam, unsere Schule zum Verkauf anzubieten, vor dem Gelände Schilder mit Niedrigpreisen aufstellte und eine Auktion bei eBay eröffnete, richteten sich aller Augen auf Nelson Baker und Jenna McLaughlin, nicht aber auf uns. Selbst wenn wir den Streich zugegeben hätten – wie wir es vorhatten, falls jemand anders Ärger bekommen hätte -, hätten wir es schwergehabt, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass wirklich wir die Schuldigen waren.
Darüber musste Kim immer lachen. »Die Leute glauben, was sie glauben wollen«, sagte sie.
16.47 Uhr
Meine Mutter hat mich einmal in ein Casino eingeschmuggelt. Wir waren auf dem Weg in den Urlaub nach Crater Lake und hielten in einem Ferienort in der Nähe eines Indianerreservats an und aßen zu Mittag. Meine Mutter beschloss, ein kleines Spielchen zu wagen, und ich ging mit, während mein Vater bei Teddy blieb, der in seinem Kinderwagen saß und schlief. Meine Mutter setzte sich an einen der Blackjack-Tische, wo man für einen Dollar Einsatz spielen konnte. Der Geber schaute erst mich an, dann meine Mutter, die seinen fragenden Blick mit einem Augenaufschlag beantwortete, der einen Diamanten hätte zerschneiden können, gefolgt von einem Lächeln, dessen Strahlen jedes Juwel in den Schatten gestellt hätte. Der Geber lächelte dümmlich und sagte kein Wort. Ich schaute meiner Mutter beim Spielen zu. Ich war wie gebannt. Es kam mir so vor, als wären wir gerade einmal fünfzehn Minuten dort gewesen, aber schließlich kamen mein Vater
Weitere Kostenlose Bücher