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Wenn Ich Bleibe

Titel: Wenn Ich Bleibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gayle Forman
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existierte, obwohl wir uns insgeheim und innerlich stundenlang mit der Existenz der anderen beschäftigten.
    Ich fühlte mich verpflichtet, Gründe für meinen Hass auf Kim zu finden: Sie war ein Tugendlamm. Sie war eine Nervensäge. Sie war eine Aufschneiderin. Später fand ich heraus, dass sie über mich genau das Gleiche dachte, obwohl sie mich hauptsächlich einfach für ein Miststück hielt. Und eines Tages schrieb sie es auf. Im Englischunterricht warf mir jemand ein zusammengefaltetes Blatt Papier neben den rechten Fuß. Ich hob es auf und öffnete es. Ich las: Miststück.
    Niemand hatte mich je so genannt, und obwohl ich natürlich sofort wütend wurde, fühlte ich mich auch geschmeichelt, dass ich jemanden weit genug in Rage gebracht hatte, um dieser Bezeichnung würdig zu sein. Meine Mutter wurde oft so genannt, vermutlich weil es ihr schwerfiel, ihre Zunge im Zaum zu halten, und weil sie ziemlich harte Worte finden konnte, wenn sie anderer Meinung war als jemand anders. Manchmal explodierte sie wie ein Gewitter, und dann war alles wieder gut. Aber es machte ihr nichts aus, als Miststück bezeichnet zu werden. »Das ist nur ein anderes Wort für Feministin«, erklärte sie mir stolz. Sogar mein Vater warf ihr den Begriff ab und zu an den Kopf, aber immer nur auf eine scherzhafte Art. Manchmal hörte es sich sogar wie ein Kompliment an. Er sagte es nie im Streit. Davor hütete er sich.

    Ich schaute von meinem Grammatikbuch auf. Es gab nur eine Person, die dafür in Frage kam, mir so einen Zettel zuzuschieben, aber ich konnte es immer noch kaum glauben. Ich betrachtete meine Mitschüler. Alle hatten die Köpfe in den Büchern vergraben. Alle außer Kim. Ihre Ohren waren so rot, dass sich die Farbe beinahe auf die kleinen Löckchen ihrer schwarzen Haare übertrug, die ihr seitlich ins Gesicht fielen. Sie funkelte mich an. Ich war zwar erst elf Jahre alt und in gesellschaftlichen Dingen nicht sehr bewandert, aber selbst ich erkannte einen Fehdehandschuh, wenn er mir vor die Füße geworfen wurde. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn aufzuheben.
    Als wir älter wurden, witzelten wir immer darüber, wie froh wir seien, dass wir uns auf diesen Kampf eingelassen hatten. Nicht nur untermauerte es unsere Freundschaft, nein, es war auch unsere erste und wahrscheinlich letzte Gelegenheit für eine anständige Prügelei. Wann sonst würden zwei Mädchen wie wir wieder einmal die Möglichkeit bekommen, die Fäuste zu schwingen? Ich wälzte mich zwar oft mit Teddy auf dem Boden herum, und manchmal zwickte ich ihn, aber ein Faustkampf? Er war ja fast noch ein Baby, und selbst als er älter wurde, war Teddy zur Hälfte mein kleiner Bruder und zur anderen Hälfte mein Kind. Ich war sein Babysitter gewesen, seit er ein paar Wochen alt war. Ich könnte ihm niemals wehtun. Und Kim hatte keine Geschwister, mit denen sie ihre Kräfte hätte messen können.
Vielleicht hätte sie sich im Sommercamp prügeln können, aber die Konsequenzen waren die Sache nicht wert: stundenlange Konfliktlösungsseminare mit den Betreuern und dem Rabbi. »Meine Leute wissen zu kämpfen«, sagte sie mir einmal, »aber nur mit Worten, mit vielen, vielen Worten.«
    Aber an diesem Herbsttag kämpften wir mit unseren Fäusten. Nach der letzten Stunde folgten wir einander wortlos hinaus auf den Pausenhof, ließen unsere Schultaschen auf die Erde fallen, die vom beständigen Nieselregen nass war. Kim stürmte wie ein Bulle auf mich los und stieß mich so fest in den Magen, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich schlug ihr seitlich gegen den Kopf, mit der geballten Faust, wie Männer es tun. Andere Kinder versammelten sich um uns herum, um sich das Spektakel anzuschauen. Eine Prügelei kam an unserer Schule nicht oft vor. Eine Prügelei unter Mädchen war eine absolute Seltenheit. Und eine Prügelei unter braven Mädchen war eine Sensation.
    Als uns die Lehrer voneinander trennten, waren wir von der Hälfte der Schüler und Schülerinnen aus der sechsten Klasse umringt. Dieser Massenauflauf hatte die Lehrer, die an diesem Tag im Pausenhof Aufsicht hatten, erst auf uns aufmerksam gemacht. Der Kampf endete unentschieden. Ich hatte eine gespaltene Lippe und ein geprelltes Handgelenk, das ich mir allerdings selbst zugezogen hatte, als ich Kims Schulter verfehlt und dafür mit voller Wucht den Pfosten getroffen
hatte, an dem das Volleyballnetz befestigt war. Kim hatte ein geschwollenes Auge und eine aufgeschürfte Hüfte, weil sie über ihren Rucksack gefallen war,

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