Wenn Ich Bleibe
immer so drollig und witzig, aber auf eine so trockene, unauffällige Art, dass sie den Leuten, die ihre sarkastische Art von Humor nicht begreifen, oft erklären muss, dass sie nur Spaß macht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals so sein wird wie ihre Mutter. Andererseits habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten. Es gibt nicht besonders viele jüdische Mütter in unserer Stadt oder jüdische Kinder in unserer Schule. Und diejenigen,
die Juden sind, sind es meistens nur zur Hälfte, was bedeutet, dass in der Regel neben der Menora ein Weihnachtsbaum steht.
Aber Kim ist durch und durch Jüdin. Manchmal esse ich freitags mit ihnen zu Abend, wenn sie ihre Kerzen anzünden, das Challa-Brot essen und Wein trinken. Das ist die einzige Gelegenheit, bei der die neurotische Mrs Schein Kim erlaubt, Alkohol zu trinken. Es wird von Kim erwartet, dass sie nur mit jüdischen Jungs ausgeht, was bedeutet, dass sie gar nicht ausgeht. Scherzhaft behauptet sie, dass dies der Grund sei, warum ihre Familie in unsere Stadt gezogen ist, während in Wahrheit ihr Vater hier einen Job in einer Computerfirma angeboten bekam. Als sie dreizehn wurde, feierte sie ihre Bar-Mizwa in einer Synagoge in Portland, und während der Kerzenzeremonie wurde ich aufgerufen, um eine Kerze anzuzünden. Jeden Sommer verbringt sie einige Wochen in einem jüdischen Sommercamp in New Jersey. Es heißt Camp Torah Habonim, aber Kim nennt es Torah Hure, weil die Jugendlichen den ganzen Sommer lang nichts anderes tun, als übereinander herzufallen.
»Wie in deinem Sommercamp«, witzelte sie einmal, obwohl mein Sommermusikkurs gar nichts mit American Pie gemeinsam hat.
Ich merke, dass Kim sehr verärgert ist. Sie geht schnell und hält gut und gerne zehn Schritte Abstand von ihrer Mutter, während sie durch die Flure laufen.
Plötzlich zieht sie die Schultern hoch, wie eine Katze, die gerade einen Hund erspäht hat. Sie wirbelt zu ihrer Mutter herum.
»Hör auf damit!«, befiehlt Kim. »Wenn ich nicht weine, gibt es für dich erst recht keinen Grund, verdammt noch mal!«
Kim flucht nie. Ich bin schockiert.
»Aber«, protestiert Mrs Schein, »wie kannst du so … so« – Schluchzen – »so ruhig sein, wenn …«
»Schluss damit!«, schneidet ihr Kim das Wort ab. »Mia ist immer noch da. Also reiße ich mich zusammen. Und wenn ich das kann, kannst du das auch!«
Kim marschiert in Richtung Wartezimmer davon, und ihre Mutter folgt ihr mit schlaffen Schritten. Als sie den Raum erreichen und Mrs Schein meine versammelte Familie sieht, fängt sie an zu schniefen.
Diesmal flucht Kim nicht. Aber ihre Ohren werden rosarot, ein deutliches Zeichen, wie wütend sie ist. »Mutter, ich lasse dich jetzt hier. Ich gehe ein bisschen spazieren und komme später wieder.«
Ich folge ihr wieder durch den Flur. Sie wandert in der Eingangshalle herum, schlendert durch den Geschenkeladen und besucht die Cafeteria. Dann schaut sie sich die Tafel mit den einzelnen Abteilungen und Räumlichkeiten des Krankenhauses an. Ich glaube, ich weiß, wohin sie will, noch bevor sie selbst es weiß.
Im Erdgeschoss befindet sich eine kleine Kapelle. Es ist still hier drin, eine Stille wie in einer Bibliothek.
Die Stühle sind mit Plüsch bezogen, wie in einem Kino, und aus Lautsprechern tönt gedämpfte Sphärenmusik.
Kim lehnt sich auf einem der gepolsterten Stühle zurück. Sie zieht ihren Mantel aus – den aus schwarzem Samt, um den ich sie schon immer beneidet habe. Sie hat ihn aus einem Kaufhaus in New Jersey, wo sie öfters hinfährt, um ihre Großeltern zu besuchen.
»Schau dir das an«, sagt sie jetzt und versucht es mit einem kleinen Lachen, das sich aber eher wie ein Schluckauf anhört. An ihrem Ton merke ich, dass sie nicht mit Gott redet, sondern mit mir. »Das also stellt sich die Krankenhausleitung unter konfessionsübergreifender Ausstattung vor.« Sie deutet auf verschiedene Punkte in der Kapelle. An einer Wand hängt ein Kruzifix, und über einem Pult liegt ein mit einem Kreuz besticktes Tuch. Im Hintergrund hängen noch ein paar Gemälde von der Muttergottes mit dem Christuskind. »Da haben wir den Davidsstern«, sagt sie und deutet auf den sechsstrahligen Stern an der Wand. »Aber was ist mit den Muslimen? Kein Gebetsteppich, kein Symbol, das zeigt, in welcher Richtung sich Mekka befindet. Und was ist mit den Buddhisten? Können die sich denn nicht einmal einen Gong leisten? Dabei gibt es in Portland vermutlich mehr Buddhisten als Juden.«
Ich setze mich neben
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