Wenn Ich Bleibe
und Teddy uns holen. Beide waren ziemlich missmutig. Wir waren über eine Stunde lang weggeblieben.
Auf der Intensivstation ist es genauso. Man weiß nie, wie viel Uhr es gerade ist oder wie viel Zeit vergangen ist. Und wie im Casino ist es auch hier nie still. Aber statt des ständigen Klingelns der Spielautomaten und des gleichförmigen Klickens von Münzen wird man hier von dem ewigen Summen und Sirren der medizinischen Geräte begleitet, dem Rascheln des Papiers, das aus dem Drucker läuft, und den nie versiegenden Gesprächen der Schwestern und Pfleger.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon hier bin. Vor einer Weile erklärte mir die lispelnde Schwester, dass sie jetzt heimgehen würde. »Ich komme morgen wieder, und ich möchte, dass du hierbleibst, Herzchen.« Zuerst kamen mir ihre Worte seltsam vor. Wäre sie nicht froh, wenn ich nach Hause gehen könnte oder auf eine normale Station des Krankenhauses verlegt werden würde? Aber dann begriff ich, dass sie mich ermahnte, in dieser Welt zu bleiben. Sie bat mich, nicht zu sterben.
Immer wieder kommen Ärzte vorbei, lösen das Klebeband von meinen Augenlidern, ziehen sie hoch und schwenken ihre kleinen Lampen. Sie haben es eilig, und ihre Hände sind grob, als ob meine Augenlider keine Sanftheit verdienten. Mir wird klar, wie selten wir einander an den Augen berühren. Vielleicht halten Eltern hin und wieder das obere Lid fest, um einen Fremdkörper aus dem Auge zu entfernen, oder vielleicht küsst ein Liebhaber die geschlossenen Augenlider seiner Liebsten,
so leicht wie ein Schmetterling, bevor beide einschlafen. Aber Lider sind nicht wie Ellbogen oder Knie oder Schultern, Körperteile, die es gewohnt sind, angestoßen und gestreift zu werden.
Die Sozialarbeiterin sitzt jetzt an meinem Bett. Sie überfliegt meine Krankenakte und redet mit einer der Schwestern, die normalerweise an dem Schreibtisch in der Mitte des Raums sitzt. Es ist erstaunlich, wie vollkommen man hier überwacht wird. Wenn sie nicht mit Lämpchen in deine Augen leuchten oder die Ausdrucke lesen, die das Gerät neben dem Bett ausspuckt, dann beobachten sie deine Lebenszeichen auf einem zentralen Monitor. Wenn irgendetwas auch nur eine Kleinigkeit von der Norm abweicht, fängt einer der Bildschirme an zu piepen. Ständig wird irgendwo ein Alarm ausgelöst. Am Anfang hat es mich erschreckt, aber mittlerweile weiß ich, dass es in der Hälfte der Fälle die Maschinen sind, die nicht richtig funktionieren, nicht die Menschen.
Die Sozialarbeiterin wirkt erschöpft, als würde sie sich am liebsten in eins der leeren Betten legen. Ich bin nicht die einzige Person, für die sie zuständig ist. Den ganzen Nachmittag musste sie zwischen Patienten und Familien hin und her laufen. Sie ist das Bindeglied zwischen Ärzten und Angehörigen, und man merkt ihr an, wie anstrengend es ist, zwischen diesen beiden Welten die Balance zu halten.
Nachdem sie meine Akte gelesen und mit den
Schwestern gesprochen hat, geht sie wieder nach unten zu meiner Familie. Hier wird nicht mehr gesprochen; jeder hat sich eine eigene, einsame Beschäftigung gesucht. Meine Großmutter strickt. Gramps tut so, als würde er dösen. Tante Diane spielt Sudoku. Meine Cousine und meine Cousins wechseln sich mit einem Gameboy ab, dessen Ton abgestellt ist.
Kim ist fort. Als sie nach ihrem Besuch in der Kapelle wieder ins Wartezimmer kam, fand sie Mrs Schein am Boden zerstört vor. Es war ihr furchtbar peinlich, und sie scheuchte ihre Mutter nach draußen. Ich dagegen denke, dass es eigentlich eine Erleichterung für die anderen war, Mrs Schein in ihrer Mitte zu haben. Sie zu trösten und aufzumuntern, gab allen etwas zu tun, eine Möglichkeit, sich nützlich zu machen. Jetzt fühlen sie sich wieder hilflos, überflüssig, verdammt dazu, abzuwarten.
Als die Sozialarbeiterin eintritt, stehen alle auf, als ob sie ein Mitglied des Königshauses begrüßen würden. Sie schenkt ihnen ein kurzes Lächeln, was sie heute schon öfters getan hat. Ich glaube, das ist ihre Art zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist oder sich nichts verändert hat und dass sie lediglich einen kurzen Zwischenbericht überbringen will, keine schlechte Nachricht.
»Mia ist immer noch ohne Bewusstsein, aber ihre Lebenszeichen stabilisieren sich«, sagt sie meinen versammelten Angehörigen, die Strickzeug, Gameboy, Sudoku-Heft
und alles, womit sie sich sonst noch beschäftigten, achtlos auf den Stühlen zurückgelassen haben. »Sie wird gerade von den
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